Wo hat mein Kind das nur her?
So ist doch keiner von uns, das haben wir ihm nicht beigebracht, wundern sich Eltern manchmal angesichts befremdlicher Eigenheiten ihres Nachwuchses. Wo kommen die wohl her? Unser Artikel geht auf die Suche danach, was die ureigenste Persönlichkeit eines jeden Kindes ausmacht – und wann diese beginnt.
Mein Kind, dein Kind, unser Kind
„Was sehen wir eigentlich, wenn wir ein neugeborenes Babys betrachten, das uns mit glänzenden Augen unverblümt ins Gesicht starrt? Ist das wirklich schon eine Person?“ fragt der amerikanische Pränatalpsychologe Dr. David Chamberlain in seinem Buch „Woran Babys sich erinnern“. Nun, zuallererst sehen Eltern in der Regel, von wem das Kleine die süße Stupsnase oder die beeindruckende Denkerstirn, den wilden Haarwuchs oder die zarten Glieder geerbt hat. Dann werden vielleicht Schlaf- und Essgewohnheiten mit denen der Eltern im Babyalter verglichen. Und schließlich schreibt man später oft auch Eigenschaften und Fähigkeiten des Nachwuchses dem väterlichen oder mütterlichen Erbgut zu. Selbst wenn man nicht immer glücklich über alles ist, was sich von der eigenen Persönlichkeit im Kind widerspiegelt: Die Gemeinsamkeiten verbinden, sie sind Teil des Familiengefüges.
Gene und Erziehung: die anerkannten Einflüsse
Wo aber kommen die vielen Eigenheiten, Fertigkeiten und Verhaltensweisen her, die ein Kind von seinen Eltern unterscheidet, die seine unverwechselbare Identität ausmachen? Auch die sind, glaubte man lange, in erster Linie Ergebnisse des Erbguts, erwachsen aus der einzigartigen Kombination der elterlichen Gene, in der neben dem Aussehen ebenso der Charakter festgeschrieben sei. Heute weiß man, dass hier zwar durchaus viele solcher Informationen lagern, diese aber nicht unumstößlich bestimmen, wer wir sind, sondern eher, wer wir sein könnten. Gene sind lernfähig, verändern sich unter dem Einfluss von Erfahrungen, Lebensstilen – und vor allem auch der Erziehung, die bei uns als der allerwichtigste Faktor gilt, der ein Wesen formt. Wie Eltern gerade in den ersten drei Lebensjahren auf ihr Kind eingehen, wie liebevoll sie Geborgenheit, Sicherheit und Werte vermitteln oder Talente fördern, dem wird der größte Anteil an der Persönlichkeitsbildung zugeschrieben. Bedeutet das also, dass sich eine „echte“ Person erst ab der Geburt im Wechselspiel zwischen Genen und zahlreichen Umweltbedingungen entwickelt?
Vorgeburtliche Erfahrungen: was im Mutterleib passiert
Nein, sagen Pränatalpsychologen: Menschsein, die Ausbildung einer Identität, beginnt schon ab der ersten Minute im Mutterleib. „Wir lernen immer weiter dazu, wie früh Gedächtnis und Bewusstsein anfangen“, sagt Dr. Sven Hildebrandt, Frauenheilkundler aus Dresden sowie Präsident der Internationalen Gesellschaft für Prä- und Perinatale Psychologie und Medizin (ISPPM e.V.), und führt aus: „In der Antike nahm man noch an, dass sich Bewusstsein erst mit der Pubertät ausbildet. Freud legte diesen Zeitpunkt in die Kleinkindzeit. Mit Frederik Leboyer und dem Bonding-Konzept rückte das Babyalter in den Fokus. Schließlich entdeckte man, dass bereits Föten im Mutterleib sowohl Gefühle und soziale Kompetenzen als auch Lernfähigkeit aufweisen. Und während man früher annahm, dass für ein Gedächtnis ein neuronales Netzwerk vorhanden sein muss, weiß man heute, dass bereits einzelne Zellen Erinnerungen abspeichern.“ Demnach ist alles, was wir ab dem Moment der Zeugung im Laufe einer Schwangerschaft erfahren – Emotionen der Eltern (vor allem der Mutter) wie Freude oder Ablehnung, Liebe, Stress oder Entspannung bis hin zu den Umständen der Geburt – bereits ein Teil von uns. Und bleibt es auch: „Die Psychotraumatologie zeigt, dass das Gedächtnis für vorgeburtliche Erlebnisse immer da ist, auch wenn es nicht bewusst erinnert wird“, erklärt Dr. Hildebrandt. Nach seiner Erfahrung entwickeln beispielsweise Frauen, die sich im Mutterleib als unerwünscht erfahren haben, oft selbst mit der eigenen Schwangerschaft Konflikte, für die sich keine anderen plausiblen Ursachen ergeben. „Ebenso kann der Verlust eines Zwillings im Mutterleib ein massives Trauma auslösen, das sich unter anderem in ausgeprägten Verlustängsten zeigt. Bei Schreibabys finden sich ebenfalls oft vorgeburtliche oder Geburtstraumata als Erklärungen“, so Dr. Hildebrandt.
Fängt Persönlichkeitsbildung demnach an, sobald sich Eizelle und Samen gefunden haben? Entsteht in diesem Augenblick wie im Urknall eine Seele, die ihre ersten Erfahrungen auf dieser Welt im Mutterleib macht und dann zwischen Genen und Erziehung ausgeformt wird?
Wiedergeburt: Wandern Seelen von Leben zu Leben?
Auch dies greift nach den Ansichten von zahlreichen Kulturen und Religionen wie dem Buddhismus und dem Hinduismus zu kurz: Hier ist es seit Jahrtausenden eine Selbstverständlichkeit, dass der unsterbliche Kern eines Wesens, die Seele, schon lange vor der Zeugung existiert und jetzt nur eine neue Verkörperung (Reinkarnation) erfährt. Für den Durchschnittseuropäer, aufgewachsen in einem christlichen Glauben und mit einer klassischen naturwissenschaftlichen Bildung, scheint dieser Gedanke fast absurd. „Es gibt aber eindeutige Hinweise darauf, dass am Ende eines Lebens Transformationsprozesse stattfinden, die das Konzept einer solchen Seelenwanderung unterstreichen“, sieht Dr. Sven Hildebrandt Wiedergeburt nicht als Frage des Glaubens, sondern aus wissenschaftlicher Sicht. „Abgesehen davon gehörte es selbst im Christentum ganz ursprünglich einmal dazu.“
Kinder haben leichteren Zugang zu ihrer Seele
Erika Schäfer, Diplompsychologin im bayrischen Erlbach, ist Mitte der 1980er Jahre durch ihre eigenen Kinder auf das Thema gestoßen. Der Satz ihres Sohnes „Mama, glaub mir, ich habe schon einmal gelebt“ betitelt ein Buch, in dem sie ausführlich von ihrer langjährigen Arbeit als Reinkarnationstherapeutin mit Kindern berichtet, deren Auffälligkeiten wie starke Ängste und Aggressionen sowie Krankheiten von Wachstumsstörungen bis Neurodermitis die Schulmedizin ratlos machte. In solchen Fällen, zeigt Schäfer, standen die Probleme fast immer in Verbindung mit Erfahrungen aus früheren Leben, die aufgelöst werden wollten. Zugang zu diesen Informationen findet die Therapeutin über spezielle Fragetechniken, die der Seele ihre Erinnerungen entlocken und die sie die Kinder als Bilder malen lässt. „Was die Seele genau ist, lässt sich intellektuell kaum beschreiben. Im Prinzip deckt der Begriff alle Erfahrungen ab, die wir je gemacht haben und machen werden. Unsere Seele weiß einfach alles“, so Schäfer. Manche setzen die Seele mit dem Unbewussten des Sigmund Freud gleich, dem Unterbewusstsein, das alle Wahrnehmungen speichert und einen enormen Einfluss auf unser Denken und Handeln hat. Dass Erklärungen rund um die Seele nicht leicht mit dem Verstand zu fassen und nachvollziehbar sind, macht vielen Menschen den Zugang zum Thema schwer. Kinder gehören grundsätzlich nicht dazu, erlebt die Therapeutin immer wieder: „Kinder gehen mit Tod und Wiedergeburt ganz unbelastet um. Sie stellen nichts in Frage, lassen sich auf die Impulse ihrer Seele gut ein und geben einfach wieder, was sie fühlen und sehen.“
Familiensysteme: Der Einfluss der Ahnen und Verwandten
In ihrer Tätigkeit hat sich für Erika Schäfer zudem bestätigt, was Anthroposophen postulieren: dass Kinder nicht zufällig in ihre Familie hineingeboren werden. „Eltern und Kinder sowie Geschwister teilen meiner Erfahrung nach fast immer karmische Verbindungen, das heißt, sie hatten bereits in früheren Leben miteinander zu tun und haben sich wieder zusammengefunden, vielleicht, um ein gemeinsames Schicksal zu lösen.“ Das hieße, neben der körperlichen Verwandtschaft, neben der Tatsache, dass die Erfahrungen früherer Generationen die Gene eines jeden Nachfahren mitgeformt haben, gäbe es weitere starke, prägende Bande vor allem zwischen engen Familienmitgliedern, aber durchaus auch entfernteren Verwandten. Die enormen Emotionen, die in Familienaufstellungen zutage kommen können, veranschaulichen, dass das Seelenleben und die Persönlichkeit eines Einzelnen eng mit dem Familiensystem zusammenhängen, dass die allseits präsenten Beziehungsgeflechte kein Mitglied unberührt lassen. Das schließt auch zur Adoption freigegebene Kinder mit ein: Sie bleiben, unabhängig vom Wohlergehen in der neuen Familie, über solche Bande mit der Ursprungsfamilie verbunden – eine Erklärung dafür, warum so viele irgendwann nach ihren leiblichen Eltern suchen und ein Grund, wenn irgend möglich einen Weg zu finden, die Kinder nicht völlig von diesen Wurzeln abzuschneiden.
Haben Himmel und Erde auch etwas zu melden?
Während die Vorstellung von Seelenwanderung gerade auf den ersten Blick irritierend scheint, bleibt auch die Astrologie als Charaktererklärung mit starker Skepsis behaftet: Horoskope haben bei aller Beliebtheit für die meisten Menschen wenig mehr als Unterhaltungswert. Können Sonne, Mond und andere Planeten durch ihre Stellungen zum Zeitpunkt der Geburt tatsächlich die Persönlichkeit mitbestimmen? Wer es für sein eigenes Kind prüfen will, kann den „Astro-Guide für Kinder“ von Claudia Graf befragen. Manche Astrologen drehen die Perspektive sogar um: Der Mensch sei nicht typisch Waage, Zwilling oder Steinbock, weil er unter dem ein oder anderen Tierkreiszeichen geboren ist – sondern er wird gezielt in eine bestimmte Himmelskonstellation hinein geboren, weil seine Seele eben genau diese Eigenschaften schon verkörpert. Demnach ließe sich aus dem Geburtshoroskop ablesen, was ein Kind im letzten Leben erfahren hat und welcher Aufgabe es sich nun stellen muss – auszuprobieren beispielsweise mit dem Buch „Kosmisches Karma“ von Marguerite Manning. Laut Naturvölkern kann man solche Auskünfte genauso gut von der Erde bekommen, zeigt der Völkerforscher Kenneth Meadows unter anderem in „Das Natur-Horoskop“. Die Indianer Nordamerikas haben ebenfalls einen Tierkreis entworfen, der sich in diesem Fall sehr komplex aus der Natur ableitet. Auch ihre Zeichen sind Monaten zugeordnet, und obwohl hier Specht heißt, was in der Astrologie der Krebs ist: Die Eigenschaften, die den korrespondierenden Zeichen zugeschrieben werden, sind sich erstaunlich ähnlich.
Mein Kind, das unbekannte Wesen
Wer also sind wir schon, wenn wir auf die Welt kommen? Sehen Eltern, wie David Chamberlain fragte, eine richtige Person mit „charakteristischen, individuellen Strukturen und Verhaltensmustern“, wenn sie ihrem Neugeborenen in die Augen schauen? Selbst wenn man sich ausschließlich auf rein wissenschaftliche Erkenntnisse stützt, ist die Antwort eindeutig: Ja, sie sehen eine echte Persönlichkeit, die spätestens ab der ersten Zelle ihres Daseins mit Erinnerungen ausgestattet und kontinuierlich von den Wahrnehmungen im Mutterleib geprägt wird und Gefühle hat. Sie sehen ein Wesen, das über körperliche Verwandtschaft und vielleicht seelische Verbundenheit ganz vertraut ist, in dem aber gleichzeitig unendliche Möglichkeiten und unbekannte Potentiale schlummern, die Eltern überraschen können, sei es in Form liebenswerter Eigenheiten, außergewöhnlicher Fähigkeiten oder auch einer Auffälligkeit, deren Ursprung sich nicht leicht erschließen lässt. Vielleicht erzählt oder malt dieses Wesen einmal, was es in Mamas Bauch erlebt hat, was zur Geburt passiert ist oder gar viel früher, als es noch ein anderer Mensch war. Das mag für verstandesbetonte Erwachsene befremdlich oder gar gruselig scheinen, und die Versuchung, darüber zu lachen oder dies als allzu blühende Fantasie abzulehnen, kann groß sein. Für die Kinder sind diese Gedanken und Bilder aber – egal, woher sie nun tatsächlich kommen – absolut real, sie sind ein Teil von ihnen, der offenbar Beachtung fordert und auf den sie aufmerksam machen wollen. Dieser Sinn für sich selbst, die eigenen Bedürfnisse und die Wahrhaftigkeit der Gefühle, verdient, was auch immer man selbst für (un)möglich hält, auf jeden Fall Respekt.
Der arabische Dichter Khalil Gibran (1883-1931) fasste es morgenländisch poetisch in folgende Worte:
Eure Kinder sind nicht eure Kinder.
Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selber.
Sie kommen durch euch, aber nicht von euch,
Und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht.
Ihr dürft ihnen eure Liebe geben, aber nicht eure Gedanken,
Denn sie haben ihre eigenen Gedanken.
Ihr dürft ihren Körpern ein Haus geben, aber nicht ihren Seelen,
Denn ihre Seelen wohnen im Haus von morgen, das ihr nicht besuchen könnt, nicht einmal in euren Träumen.
Ihr dürft euch bemühen, wie sie zu sein, aber versucht nicht, sie euch ähnlich zu machen.
Denn das Leben läuft nicht rückwärts, noch verweilt es im Gestern.
Ihr seid die Bogen, von denen eure Kinder als lebende Pfeile ausgeschickt werden.
Der Schütze sieht das Ziel auf dem Pfad der Unendlichkeit,
und Er spannt euch mit Seiner Macht, damit seine Pfeile schnell und weit fliegen.
Laßt euren Bogen von der Hand des Schützen auf Freude gerichtet sein;
Denn so wie Er den Pfeil liebt, der fliegt, so liebt er auch den Bogen, der fest ist.
Zum Weiterlesen
- Erika Isolde Schäfer (unter dem Mädchennamen Isolde Mehringer-Sell): Mama, glaub mir, ich habe schon einmal gelebt. Reinkarnationstherapie mit Kindern. Schirner. 2001. ISBN: 3-897-67-090-9. 20,40 Euro.
- David Chamberlain: Woran Babys sich erinnern. Über die Anfänge unseres Bewusstseins im Mutterleib. Kösel. 2010. ISBN-13: 978-3466345519. 17,95 Euro.
- Evelyne Steinemann: Der verlorene Zwilling. Wie ein vorgeburtlicher Verlust unser Leben prägen kann. Kösel. 2006. ISBN-13: 978-3466307173. 14,95 Euro.
- Joachim Bauer: Das Gedächtnis des Körpers. Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern. Piper. 2004. ISBN-13: 978-3492241793. 9,95 Euro.