Die Familien-Omi
Viele Omas wollen sich heute lieber selbst verwirklichen, anstatt von Neuem vor allem für die Familie zu leben und ständig die Enkel zu hüten. Stirbt die Familien-Omi aus?
Eine (nicht ganz ernst gemeinte) Betrachtung
Ich selbst hatte noch eine Oma "vom alten Schlag": Sie war füllig und rotbäckig, ließ sich allwöchentlich das weiße Haupthaar legen, und alle zwei Monate gab’s die obligatorische "Schäfchen-Dauerwelle". Überhaupt spielte die Regelmäßigkeit in ihrem Leben eine zentrale Rolle.
So stand sie morgens um 5.30 Uhr auf ("Das habe ich schließlich immer so gemacht") und sprühte trotz dieser unchristlichen Zeit schon vor Energie und guter Laune. Mittagessen gab’s seit Jahrzehnten um Punkt zwölf ("Wo kommen wir denn sonst hin!"). Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass sie fantastisch buk und kochte.
Der Abend war dann ihre Zeit: Sie pflegte auf ihrem Lieblingssessel die Beine hochzulegen und Heimatfilme aus den Fünfzigern oder ihren heißgeliebten Derrick zu genießen, während sie einer Tafel Schokolade den Garaus machte.
Alt, aber nicht von gestern
Sie war aber alles andere als von gestern. Ab einem gewissen Alter meinerseits horchte sie mich scheu, aber höchst interessiert nach den modernen Verhütungsmethoden aus und fand es überhaupt große Klasse, dass die jungen Frauen heute nicht mehr so schnell mit dem Heiraten sind. Auch ließ sie mich in verschämten Andeutungen ahnen, dass sie selbst in ihrer Jugend durchaus ein heißer Feger gewesen ist und nichts Menschliches ihr fremd war.
Inzwischen hat auch meine Generation die eigenen Eltern längst zu stolzen Großeltern gemacht. Und doch sind sie so ganz anders, die neuen Omas. Zunächst mal mögen sie lieber mit ihrem Vornamen angesprochen werden, statt mit "Omi". Der ebenso braven wie geschlechtslosen Hausfrauen-Dauerwelle ziehen sie einen getönten Pagenschnitt vor, die herausnehmbaren "Dritten" sind blitzenden Jacketkronen gewichen, und statt Stricken auf der Parkbank, ist Räkeln auf der Sonnenbank angesagt.
Zwischen Fitness-Studio und Internet-Café
Und überhaupt haben sie wenig Zeit, die jungen Großmütter. Denn ihr Terminplaner ist proppenvoll. Nach dem Training im Fitness-Studio geht’s zum Computerkurs, anschließend mit der besten Freundin ins Internet-Café. Abends findet man sie zum Klönen in der Cocktailbar oder in der alternativen Theaterszene.
Im Sommer an die Cote d´Azur
An den Wochenenden besuchen sie das neueste Reiki- oder Bachblüten-Seminar. Sie konvertieren zum tibetischen Buddhismus und lassen im Garten bunte Gebetsfähnchen flattern. Und im Winter sind sie generell kaum anzutreffen. Den verbringen sie viel lieber im Wohnwagen an der sonnigen Cote d’Azur oder gleich auf Gran Canaria.
Und auch auf anderem Gebiet lassen sie sich die Butter nicht mehr vom Brot nehmen: Geht der Ehemann ihnen nach all den Jahren zu sehr auf den Senkel, schicken sie ihn zum Teufel und nehmen sich schnurstracks einen Lover – natürlich einen viel jüngeren.
Mit einem Wort: Die Oma aus der "guten alten Zeit" stirbt aus. Powerfrauen nehmen zunehmend ihren Platz ein. "Ist doch klasse!", werdet Ihr jetzt vielleicht sagen. Und Ihr habt natürlich Recht. Eine Frau sollte für sich selbst leben, nicht nur für die Familie.
Aber ein klitzekleines bisschen schade ist es doch um die gemütliche Omi mit Haarnetz, aus deren Küche es immer verführerisch duftete, an deren üppigem Busen so manches weinende Enkelkind einen tröstlichen Hafen fand, die zu allem und jedem althergebrachte Weisheiten wusste und die nie um ein Hausmittel verlegen war. Oder etwa nicht?