Erziehung: Wann darf man sich einmischen?
Eine heikle Frage: Darf ich meiner Freundin reinreden, wenn mir an ihrem Erziehungsstil etwas nicht gefällt? Und wie stehts mit dem Unbekannten, der sein Kind auf der Straße anbrüllt? Einmischen oder schweigen?
Viele Situationen sind grenzwertig
Die nette Mutter aus dem Nachbarhaus ist für sechs Wochen in einer Reha-Klinik. Der berufstätige Vater ist mit den drei Kindern allein überfordert. Die sonst gepflegte Wohnung versinkt im Chaos, die Kinder schwänzen über lange Strecken die Schule, keiner geht mit dem Hund Gassi. Zwei Meerschweinchen liegen mehrere Tage verdurstet in ihrem Käfig im Zimmer des verstörten jüngsten Kindes, ohne dass sich jemand darum kümmert. Ein anderer Fall: Eine Freundin verteilt an ihre zwei Kinder immer wieder Klapse, sobald diese bockig sind, während man selbst befremdet und peinlich berührt daneben steht. Oder: An der Supermarktkasse brüllt ein Vater mit sichtlich schwierigem sozialen Hintergrund sein kleines Kind mehrfach überlaut an, obwohl es nichts verbrochen hat und nur noch eingeschüchtert wegsieht. Die anderen Kunden schauen sich mitleidig und betreten an. Eine weitere Situation: Ein Junge aus derselben Klasse wie das eigene Kind ist auffallend aggressiv und erzählt den anderen Kindern oft von offensichtlich brutalen Computerspielen, die nicht zu seinem Alter passen und die er täglich stundenlang spielt.
Eltern wissen natürlich: Einmischung in Sachen Erziehung kommt bei anderen schlecht an. Wer klug ist, hält sich daher mit ungebetenen Ratschlägen zurück. Gleichzeitig sind sich aber alle darin einig, dass man in Fällen von Misshandlung oder Verwahrlosung auch als Außenstehender unbedingt das Jugendamt informieren sollte. Aber was ist mit all den grenzwertigen Situationen, die sich in der Grauzone zwischen unterschiedlichen Erziehungsansichten und echtem Katastrophenalarm bewegen? Wo das Kind also zwar vielleicht nicht akut gefährdet ist, man aber ein sehr schlechtes Gefühl hat. In welchen Fällen ist Einmischung hier erlaubt und sogar nötig? Und wie kann sie aussehen? Dies richtig zu entscheiden, kommt dem Tanz auf dem berühmten Drahtseil gleich. Ob man etwas sagt oder wie man eingreift, muss also im Einzelfall ebenso rasch wie gründlich abgewogen werden. urbia möchte hier mit einigen Fallbeispielen Hilfestellung geben.
Abwägen: Muss, soll, kann oder darf man sich einmischen?
Bei der Frage, ob man überhaupt etwas sagen oder unternehmen sollte, helfen die Wörtchen müssen, sollen, können, mögen, dürfen. Sie werden in unseren Beispielen daher immer wieder auftauchen. Es gibt Fälle, in denen man sich einschalten muss, sollte oder zumindest darf, aber auch viele, in denen man es nur könnte oder möchte. Letztere Situationen wird man manches Mal tatenlos verstreichen lassen. Weil man ehrlicherweise zugeben muss, dass ein Erfolg unwahrscheinlich ist, und der Anlass die Einmischung zweitens nicht rechtfertigt. Auch in grenzwertigen Fällen muss man manchmal damit leben zu sehen, dass fremde Kinder eine schwierige Kindheit haben, ohne dass man selbst ihnen wirklich aus der Distanz helfen kann – und ohne dass sie schon ein Fall fürs Jugendamt sind. Ein Beispiel ist die zunehmende Medien-Verwahrlosung, wie in dem eingangs beschriebenen Beispiel des computerspielsüchtigen Klassenkameraden. Viele Kinder sitzen gleich nach der Schule und bis in den Abend hinein vor dem Bildschirm. Auch wenn man weiß, wie schädlich das ist und sich hier am liebsten aufregen würde, bewirkt man hier durch eigene Appelle an die Eltern kaum etwas. Man könnte sich aber an Lehrer wenden und über seine Beobachtung sprechen. Dies gilt vor allem, wenn das eigene Kind durch Aggressivität oder störendes Verhalten dieses Kindes betroffen ist.
Nur gravierender Anlass rechtfertigt Einmischung
Man darf und sollte sich vor allem dann einmischen, wenn das körperliche oder auch seelische Wohl eines Kindes sichtlich gravierend gefährdet ist, oder das eigene Kind unter einem anderen Kind leidet. Und last but not least, wenn die Einmischung Aussicht auf Erfolg hat. Eine Spielplatz-Mutter darüber zu belehren, dass sie ihrem Kind zuviele Süßigkeiten gibt, ist überflüssig. Der Anlass ist nicht gravierend genug, und mit Erfolg wird der Hinweis vermutlich kaum gesegnet sein. Bei dem frustrierten, weil vielleicht arbeitslosen und eventuell auch alkoholisierten Vater in unserem Supermarkt-Beispiel ist die Sache anders: Das Kind wirkt sichtlich verschüchtert, und es besteht zudem der Verdacht, dass das Verhalten des Vaters keine Ausnahme ist. Hier kann man sich einmischen. Dabei ist direkte Kritik aber wenig erfolgversprechend und zieht wahrscheinlich ausfallende Bemerkungen des Mannes in die eigene Richtung nach sich. Einen freundlichen, nicht angreifenden Kommentar kann man dennoch probieren: „Ja, gerade im Supermarkt sind die Kinder wirklich manchmal anstrengend, das kenne ich auch. Ich lasse meine kleine Tochter daher immer den Wagen selbst schieben und Sachen hineingeben, vielleicht kann Ihr Kleiner das auch schon? Der Einkauf klappt dann wirklich viel entspannter.“ Wer noch weiter gehen möchte, kann die Kassiererin später fragen, ob sie den Mann kennt, weil er vielleicht öfter herkommt. Oder sich, falls vorhanden, das Auto-Kennzeichen notieren und einen Hinweis ans Jugendamt geben, dass hier jemand Hilfe braucht, weil er seine Wut und seinen Frust am Kind auslässt. Vor allem, wenn der Verdacht besteht, dass Alkoholmissbrauch im Spiel ist, kann dieses Vorgehen richtig sein. Ein Muss ist die Einmischung aber hier nicht. Weil die direkte Anrede im Zweifel wenig Erfolg hat, aber vor allem, weil eine „detektivische“ Verfolgung des Mannes aufwändig und ebenfalls nicht unbedingt erfolgversprechend ist.
Je größer die Distanz, desto schwieriger die Einmischung
Wer den Impuls hat, sich einzuschalten, muss bei der Wahl der Mittel also auch das Verhältnis bedenken, in dem er zu dem Anderen steht: Handelt es sich um jemand Fremdes wie im oben genannten Supermarkt-Beispiel? Geht es um Eltern aus Kindergarten oder Schule des eigenen Kindes, um Nachbarn oder gar um gute Freunde? Als Faustregel gilt: Je größer die Distanz, desto gravierender muss der Anlass sein - und desto weniger ist in der Regel das direkte Ansprechen von Erfolg gekrönt. So dass man eventuell andere Wege wählen muss, wie zum Beispiel Lehrer anzusprechen oder auch direkt das Jugendamt zu informieren.
Diplomatie führt eher zum Erfolg
Je enger das Verhältnis, desto eher kann man auch konkretere Hilfestellung geben. Auch hier sollte der Anlass aber eine Einmischung rechtfertigen. Im Beispiel der mehrmals täglich „klapsenden“ Freundin (oder eines Freundes) sollte und muss man etwas sagen. Aber nicht in Form einer Belehrung. Sondern konstruktiv, indem man wiederum von sich selbst erzählt: „Mein Kleiner lässt sich auch nur noch unter Protest wickeln und tritt dabei dauernd um sich, das kann wirklich nerven. Damit er mal einige Minuten still hält, habe ich extra so eine kleine Spielzeugkiste bereit stehen mit Dingen, die er nur beim Wickeln bekommt.“ Oder: „Ja, das Matschen im Essen ist bei uns auch immer ein Thema. Ich glaube, das ist ganz normal bei Kindern in diesem Alter, sie können gar nicht anders. Ich hab’ aber gemerkt, dass es besser wird, wenn man das Kind schon früh selbst mit einer Kindergabel essen lässt.“ Wichtig ist es aber auch, nach dem Grund für die Gereiztheit der Freundin zu fragen. Oft hilft es, einfach nachzuhören, wie es ihr denn so geht im Alltag, ob der Partner ihr ausreichend Unterstützung gibt und ob sie Erholungsmöglichkeiten hat. Wer kräftemäßig Kapazitäten frei hat, kann natürlich auch anbieten, die Kinder einmal die Woche für einen Nachmittag zu hüten. Zumindest kann man aber übers eigene Zeitmanagement sprechen, und wie man für sich Freiräume geschaffen hat. Wie es also gelungen ist, den Partner oder die Großeltern zur Mithilfe zu bewegen, oder vielleicht eine nicht zu teure Putzfrau oder auch Tagesmutter zu finden.
Auch ein Blick zurück auf die Kindheit kann bei ihr Dinge ins Rollen bringen: Man kann von sich erzählen und fragen, ob auch die Freundin sich erinnert, in welchen Situationen ihre eigenen Eltern besonders ungeduldig reagiert haben. Und wie sie sich dabei gefühlt hat. Mit schnellen Verbesserungen darf man vielleicht nicht rechnen. Aber man kann darauf vertrauen, dass das Gesagte weiter wirkt und doch zu einer Veränderung führt. Zusätzlich sollte man hier ruhig auch einen direkten Hinweis auf die kostenlose Erziehungsberatung geben, die Kinderschutzbund, Caritas, Diakonie und Stadt anbieten.
Krisensituationen: Nicht immer ist Jugendamt die einzige Möglichkeit
Im Beispiel der kranken und daher lange abwesenden Nachbarin wurde das ganze Ausmaß der Überforderung erst spät klar. In solchen Fällen gibt es meist nur indirekte Hinweise: Ein Alarmzeichen kann (muss aber nicht) sein, dass ein Kind, das in dieselbe Schule wie das eigene Kind geht, lange unentschuldigt fehlt, man es aber vormittags fröhlich draußen spielen sieht. Manche Details erzählen die betroffenen Kinder außerdem dem eigenen Kind beim nachmittäglichen Spielen selbst. Weil die beschriebene Situation eine (wenn auch dramatische) Ausnahmesituation war, die nicht typisch für die Familie war, muss man auch hier nicht gleich das Jugendamt einschalten. Zuvor kann man als Nachbarn einfach auch direkt hingehen und fragen, ob alles in Ordnung ist, ob man die Kinder zur Schule oder zum Schulbus mitnehmen oder ob man nach den Hausaufgaben sehen soll. Man kann den Vater auch nach Verwandten fragen, die eventuell einspringen könnten. Und man sollte mit ihm über die Möglichkeit einer Haushaltshilfe sprechen, die in solchen Fällen von der Krankenkasse bezahlt wird. Noch bevor die Mutter im erzählten Beispiel heimkehrte, wurde das Problem entschärft: Die Schwester der Frau griff ein und übernahm trotz eigener Kinder die wichtigsten Arbeiten im Haushalt und in der Beaufsichtigung der Kinder. Nachbarn nahmen die Kinder morgens mit zur Schule.
Einmischung erwünscht: Wenn Freunde sich Hinweise geben
Bei sehr guten Freunden und enger Vertrautheit kann man auch miteinander vereinbaren, dass man sich untereinander sagt, wenn einem bei der Erziehung der jeweils anderen etwas Wichtiges auffällt. Und dass man dies gegenseitig nicht in den falschen Hals bekommt. Damit das funktioniert, macht natürlich auch hier der Ton die Musik: Kritik und Belehrungen sind tabu. Manchmal sehen aber Außenstehende Dinge, die man selbst im Alltag nur schwer wahrnimmt. So bemerken andere vielleicht eher, dass die Sprache, in der Vater oder Mutter mit dem Kind sprechen, wirklich nicht mehr ganz altersgemäß ist. Oder dass Eltern ihrem Nachwuchs manchmal zu wenig zutrauen oder ihn durch zuviele Ermahnungen und Ängste einzuengen drohen.
Wahrheit wie einen Mantel anbieten
Die Beispiele haben gezeigt, dass es – je nach Anlass und Distanz - verschiedene Möglichkeiten gibt, sich einzumischen:
- Den kritischen Kommentar, dessen Tenor ist: „Du machst das ganz falsch!“ Diese Form der Einmischung kann und sollte man sich sparen.
- Der indirekte Rat, indem man also zum Beispiel von eigenen Erfahrungen berichtet, etwas erzählt, das man zu dem Thema gelesen hat, oder diplomatisch erwähnt, welche Hilfsmöglichkeiten es gibt (kostenlose Haushaltshilfe, Erziehungsberatung).
- Das direkte Angebot: Fragen, ob man den Betroffenen helfen oder sie unterstützen kann, am besten schon mit konkreten Vorschlägen.
- Das Einschalten von Dritten: Erzieher, Lehrer oder in schweren Fällen auch das Jugendamt ansprechen, wenn kein anderer Weg in Frage kommt.
Egal wie die Situation ist: Man darf seiner (manchmal gerechtfertigten Empörung) nicht einfach freien Lauf lassen. Ein besonders treffendes Dichterwort lautet: „Man sollte dem anderen die Wahrheit wie einen Mantel hinhalten, dass er in sie hineinschlüpfen kann, und sie ihm nicht wie einen nassen Lappen um die Ohren schlagen.“* Schließlich würden auch wir uns belehrende und besserwisserische Kritik an unserer Erziehung zu Recht verbitten.
*Max Frisch