Grenzen für fremde Eltern

Dürfen andere über mein Kind bestimmen?

Dürfen Außenstehende das eigene Kind ermahnen oder kritisieren? Dürfen Gasteltern mit ihm unangekündigt mit dem Auto einkaufen oder es ohne Helm Rad fahren lassen? Wo sind die Grenzen für fremde Eltern und wie setze ich sie?

Autor: Gabriele Möller

Wenn die Gastmutter miterzieht

Mutter streit Spielplatz
Foto: © panthermedia.net/ Paul Vasarhelyi

"Wir waren bei einem Kindergartenfreund von Lars (5) zum Kaffee. Als wir am Tisch saßen, hat mein Sohn sich (nur in Socken) auf seinen Stuhl gekniet. Da sagte die Gastgeberin: 'Setz' dich bitte richtig hin, ich mag das nicht!' Ich dachte, naja, eigentlich hat sie ja Recht", erzählt Lars' Mutter Birgit. Die Gastmutter habe aber ständig weiter ermahnt. "Mein Sohn musste seinen Kuchen aufessen, er sollte das Milchglas anders halten. Und als er mal auf der Toilette war, ging sie ihm nach, um mit ihm die Hände zu waschen. Dabei hätte ich ihn natürlich daran erinnert, wenn er das vergessen hätte. Mir war das alles 'too much', ich habe mich nicht mehr mit ihr verabredet."

Als Birgit davon in einem Elternforum erzählt, sind die Reaktionen gemischt: "Wenn mein Kind woanders ist, darf diese Mutter mein Kind auch auf bestimmte Sachen aufmerksam machen", findet eine Userin. Eine andere widerspricht: "Eine Freundin von mir meinte in meinem Beisein auch, meinem Sohn sagen zu müssen, dass man mit Essen nicht spielt. Das fand ich übergriffig, ich bin da auch empfindlich." Für Bernhard Bueb, Pädagoge und Autor ("Lob der Disziplin") ist die Sache dagegen eindeutig: "Es sollte doch selbstverständlich sein, dass ein Kind sich in einem fremden Haushalt an die Regeln hält, die dort herrschen. Auch wenn diese Regeln vielleicht manchmal nicht glücklich sind, so ist es doch wichtig, dass ein Kind lernt, das auszuhalten." 

Können Außenstehende Benimm einfordern?

Auch wer dies genauso sieht, wird oft spätestens dann empfindlich, wenn ganz fremde Erwachsene das eigene Kind ermahnen. Eine beliebte Szenerie dafür ist der Spielplatz: "Du hast doch zwei Schaufeln. Warum willst du denn keine abgeben?", will eine Mutter von unserem Kind wissen, das sein Sandspielzeug gerade energisch verteidigt. Und noch ehe der Nachwuchs etwas sagen kann, spielt das andere Kind bereits mit seinen Sachen. Auch in Krabbelgruppen sind solche Situationen häufig. "Neulich in unserer Spielgruppe: Ein zweieinhalbjähriges Mädchen ging zielstrebig zu meinem Sohn (1), der ein Bobbycar schob. Sie schubste ihn zur Seite und griff sich das Auto. Ich nahm es ihr wieder ab und sagte freundlich 'Du schubst bitte keine anderen Kinder!'. Gleich kam die erboste Mutter zu mir und fragte, was ich mir einbilden würde, ihre Tochter zurechtzuweisen. Sie sei zu klein und könne das nicht verstehen." Egal also, ob es sich um Bekannte oder um fremde Erwachsene handelt: Viele empfinden eine Zurechtweisung ihres Kindes als Übergriff.

"Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen"

Warum ist das eigentlich so? Der Psychologe Christian Mühldorfer aus München erklärt, dass Eltern hier eine Bedrohung fühlten: "Sie empfinden ihr Kind als gefährdet, also werfen sie sich mit dem Instinkt einer Löwenmutter vor ihr Kleines". Gleichzeitig hätten sie das Gefühl, ihr Erziehungskonzept und damit zugleich ihr Selbst als Eltern würde infrage gestellt. Denn viele Eltern liefen mit einem Gefühl der Verunsicherung herum. "Sie denken, wenn ich mein Kind anders, besser erzogen hätte, würde es sich vielleicht nicht so verhalten." 

Das war nicht immer so: Irgendwo in Afrika entstand das Sprichwort: "Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf", und bis ins frühe 20. Jahrhundert galt dies auch bei uns. Es war selbstverständlich, dass auch Verwandte, Nachbarn oder gar Fremde ein Kind zurechtweisen durften. Das ist heute nur noch schwer vorstellbar, doch hatte es auch Vorteile: Es teilten sich viele Erwachsene die Erziehungsverantwortung und die Aufsicht. 

Kollektive Erziehung - eine Zumutung?

Heute ist dies anders: Die Kleinfamilie ist ein relativ geschlossener Raum, und oft sind es hier die Mütter, welche das Gros der Erziehungsverantwortung tragen. Wo sie das Miterziehen durch Erzieherinnen oder Lehrer gerade noch akzeptieren, lehnen sie die Einmischung Anderer oft vehement ab: "Dass kollektives Erziehen nicht als Erleichterung, sondern als Zumutung empfunden wird, liegt auch am deutschen Mutterbild. Die geeignete Erzieherin für ein Kind kann demnach nur die Mutter sein. Denn nur die weiß, was gut für ihr Kind ist", beschreibt die Mainzer Familiensoziologin Marina Hennig diese Haltung.  

Wenn fremde Eltern "erzogen" werden müssen

Besonders sensibel reagieren viele Eltern aber dort, wo es nicht nur um gutes Benehmen, sondern um die Sicherheit ihrer Kinder geht. Eine beiläufige Erzählung des Kindes löst da rasch Schrecken aus. "Als ich meine Tochter Mia (9) bei ihrer Freundin Johanna abgeholt habe, erzählte mir die Mutter fröhlich, dass die Kinder nachmittags spontan auf der (verkehrsberuhigten) Straße Rad gefahren sind. Und meine Tochter ergänzte: 'Ohne Helm, Mama!' Das fand ich nicht in Ordnung", berichtet Mias Mutter. "Mein Sohn Magnus war zum Spielen bei einem Kindergartenfreund. Auf dem Heimweg erzählte er, dass sie mit dem Auto einen Großeinkauf gemacht hätten. Magnus saß unterwegs nur auf einer Sitzschale, obwohl er dafür noch zu klein war", erinnert sich seine Mutter. Ursache der elterlichen Irritation ist ein häufiges Missverständnis: Mütter und Väter setzen oft unbewusst voraus, dass Gasteltern ähnliche Ansichten haben wie sie. Doch andere Eltern haben oft auch ein anderes Empfinden zum Thema Sicherheit.

Große Augen vor fremdem Bildschirm

Auch, wo ihrem Kind zwar kein körperlicher, aber ein seelischer Schaden droht, endet für viele Eltern die Toleranz. Zum Beispiel, wenn bei Freundin oder Freund immer stundenlang ferngesehen wird oder die Kinder nur vor der Playstation hängen. Erst recht, wenn die Gasteltern zu wenig auf den Inhalt dessen achten, was da über den Bildschirm flackert. "Als meine Tochter Kira (10) einmal bei ihrem Schulfreund war, erzählte sie hinterher, dass sie im Computer 'nackte Leute' gesehen hätten. Ich war erschrocken und habe gefragt, wo denn die Eltern waren. Da sagte sie, die seien kurz einkaufen gewesen." Weil ihr ein Anruf zu diesem Thema peinlich war, ließ Kiras Mutter sie nicht mehr dorthin gehen.

Kritik an anderen Eltern - Diplomatie auf glattem Parkett

Die Kinder mögen sich, auch die Eltern verstehen sich gut, es gibt kaum Bedenken, das eigene Kind dieser Familie anzuvertrauen. Fällt dann etwas vor, das einem aufstößt, ist es schwer, die Harmonie zu durchbrechen und etwas Kritisches zu sagen. Oft zögert man, und schon ist die Gelegenheit vorüber. Zu Hause gärt der Unmut dann aber weiter, und vielleicht distanziert man sich künftig von der anderen Familie, ohne dass dort jemand ahnt, warum.

Die bessere Alternative: "Nachreichen". Eltern können auch ein paar Tage später nochmal bei den Gastgebern anrufen. Sie können erzählen, wie gut es dem eigenen Kind dort gefallen hat, und dass es sich gern bald wieder verabreden möchte. "Weißt du, ich möchte aber nicht, dass mein Kind ohne Helm fährt. Ich gebe in Zukunft einfach immer einen Helm mit!" Man kann auch darum bitten, dass die Gasteltern vorher sagen, wenn sie eine Autofahrt planen, damit man den Kindersitz dort lassen kann. Wer aber lieber gar nicht will, dass zum Beispiel vor dem Haus Rad gefahren wird, sollte auch dies sagen.

Reden ist Gold

Reden ist also Gold - das gilt auch in Sachen Medien. Haben Mütter oder Väter den Eindruck, bei der Gastfamilie werde nur vor dem Bildschirm gesessen, können sie beim nächsten Besuch sagen: "Wir haben zu Hause die Regel, dass Julia nicht allein durch die TV-Kanäle zappen darf, wie macht Ihr das denn?" oder: "Ich freu' mich immer, wenn die Kinder verabredet sind und zusammen spielen können, denn dann brauchen sie kein Fernsehen, nicht? Das ist ja eher etwas, wenn es mal regnet oder niemand zum Spielen kommt."

Wichtige Anliegen vorher klären

Manch elterliche Bauchweh lassen sich schon im Vorfeld vermeiden, indem man nicht automatisch davon ausgeht, dass Andere alles ebenso handhaben wie man selbst. Wer auf Nummer sicher gehen will, fragt beim Hinbringen: "Bleibt Ihr mit den Kindern hier, oder habt Ihr etwas vor?" Oder: "Jan denkt am Straßenrand noch nicht immer ans Gucken, ich möchte deshalb nicht, dass er schon allein draußen spielt." Sind die anderen Eltern Absprachen oder Hinweisen gegenüber aber resistent, kann man den Kontakt einschränken. Dies sollte aber immer die letzte Möglichkeit sein, weil sie auf Kosten der Kinderfreundschaft geht.

Vielleicht stimmt ja die Kritik?

Geht es aber nicht um die Sicherheit, sondern um Kritik am Benehmen des Kindes, können Eltern ab und zu einen Perspektivwechsel wagen: Auch wenn der erste Reflex Wut ist, weil im Restaurant ein älterer Herr das Kind auffordert, nicht lärmend um die Tische zu rennen - man kann innehalten und überlegen, ob das Bedürfnis nach ruhiger Atmosphäre beim Essen vielleicht berechtigt ist. Das gilt auch, wenn andere Eltern unser Kind daran hindern, ihrem Nachwuchs Sand ins Gesicht zu werfen oder ihm sein Spielzeug zu entführen. Vermutlich sehen umgekehrt auch wir nicht gern tatenlos zu, wie unser Kind ungut behandelt wird.

Hat man dagegen den Eindruck, dass jemand das Kind aus Abneigung gegen Kinder oder aus Lebensverbitterung grundlos angeht, sollte man in die Bresche springen. "Nein, ich finde, im Wartezimmer muss ein Kleinkind nicht eine Stunde lang still sitzen. Es darf herumgehen, und es darf sprechen, es ist ja nicht laut!"