Wie viel Verantwortung ist gut?

Schlüsselkinder: Sicher allein zu Hause

Ob und wie lange ein Kind schon allein zu Hause bleiben kann, hängt von seinem Alter und seiner Entwicklung, aber auch von guter Vorbereitung durch die Eltern ab. Nicht alle Eltern - und auch Kinder - trauen sich diese Selbständigkeit zu.

Autor: Gabriele Möller

Normal für die einen - schwer vorstellbar für die anderen

Schlüsselkind: Mädchen geht Schulweg
Foto: © iStock, VYCHEGZHANINA

Für Kinder, die den Wohnungsschlüssel gut sichtbar an einer Schnur um den Hals trugen, erfand der Pädagoge und Psychologe Otto Speck schon im Jahr 1956 das Wort "Schlüsselkinder". Damals war der Begriff eher negativ besetzt, und auch heute scheiden sich am Thema die Geister. "Ich hatte eine heiße Diskussion mit einer Freundin, als ich ihr gesagt habe, dass ich meine Kinder (acht und neun) zu Schlüsselkindern machen möchte. Sie macht mir Vorwürfe, ich würde die Kinder vernachlässigen", berichtet eine urbia-Userin verunsichert. "Ich bin aber spätestens um 14 Uhr zu Hause, und die Kinder haben oft bis 13.30 Uhr Schule." Einer anderen geht es ähnlich: "Wenn ich nur andeute, dass ich meine Große mit sieben bis acht Jahren auch mal zwei Stunden allein daheim lassen werde, werde ich hier mit großen Augen angeschaut. Hier ist es Stand der Dinge, die Kinder bis zur vierten Klasse nicht allein zu lassen."

Oft stellt sich die "Schlüsselfrage" zwangsläufig

Viele Eltern kommen aber um die "Schlüssel-Frage" gar nicht herum: Denn mit Hort- und Ganztagsschulplätzen (auch offener Ganztag) liegt die Betreuungsquote für Grundschulkinder bundesweit bei 28 Prozent ("Monitor Familienforschung" des Bundesfamilienministeriums 2011). Mehr als zwei Drittel der Kinder sind nicht in einer nachschulischen Betreuung. Nicht immer freiwillig, denn Horte, Ganztag oder Kernzeitbetreuung gibt es noch nicht an allen Grundschulen. Sind beide Eltern berufstätig, überlegen viele daher zwangsläufig, ab wann ihr Kind zu Hause eine Weile allein sein kann.

Sind Schlüsselkinder schlechter in der Schule?

Eltern, die unsicher sind, ob sie ihr Kind nach der Schule allein lassen können, befürchten oft, dass Schlüsselkinder schlechter in der Schule sind. Schließlich wird ihnen vielleicht aus Zeitmangel weniger beim Lernen oder den Aufgaben geholfen. Doch hier können sie beruhigt sein: Bei der PISA-Studie 2000 wurden beim Bildungserfolg fünfzehnjähriger Schüler keine wesentlichen Unterschiede festgestellt zwischen Schlüsselkindern und Kindern, bei denen zuvor immer mindestens ein Elternteil ganztags zu Hause gewesen war. 

Wie ist das mit der Aufsichtspflicht?

Was sagt eigentlich der Gesetzgeber dazu, wenn Eltern ein Grundschulkind allein lassen? Der gibt sich lebensnah und stellt keine pauschale Regel auf. In § 1626 BGB heißt es: "Bei der Pflege und Erziehung berücksichtigen die Eltern die wachsende Fähigkeit des Kindes zu selbstständigem verantwortungsbewusstem Handeln." Und die Aufsichtspflicht bestimmt: Eltern müssen dafür sorgen, dass das Kind vor Schaden bewahrt wird, aber auch selbst niemandem Schaden zufügt. Dies kann aber auch bloß heißen, kein Feuerzeug offen herumliegen zu lassen, wenn das Kind allein zu Hause ist.

Der Gesetzgeber verlangt bei der Aufsichtspflicht außerdem, dass Eltern das Alter des Kindes, seine Verständigkeit, seinen Charakter und die Situation berücksichtigen. Was dies konkret bedeutet, müssen die Gerichte regeln. Eltern müssen ihr Kind nicht permanent überwachen, entschied zum Beispiel das Amtsgericht München (322 C 3629/07). Und der Bundesgerichtshof sagt, dass schon ein siebenjähriges Kind zwei Stunden unbeaufsichtigt sein darf (VI ZR 199/08). Kurz: Es liegt weitgehend in der Verantwortung der Eltern, ab wann sie ihr Kind für wie lange allein lassen.

Ab welchem Alter allein zu Hause?

Damit alles gut läuft, müssen Eltern also abwägen, ob ihr Nachwuchs schon allein bleiben kann. Ein wichtiger Punkt ist dabei die Reife eines Kindes. "Mein Sohn ist schon seit dem Schuleintritt ein Schlüsselkind. Er muss nach dem Hort, der bis 16 Uhr dauert, noch 30 bis 60 Minuten zu Hause auf mich warten. Das funktioniert super. Er trödelt nicht und kommt direkt nach Hause, macht dort keinen Blödsinn und hält sich an die Regeln", berichtet eine berufstätige Mutter zufrieden.

Nicht alle Sechsjährigen aber sind schon so verantwortungsvoll, und auch die Fähigkeit, bei Gefahrensituationen richtig zu reagieren, ist oft erst später ausgereift. Deshalb raten viele Fachleute, Kinder frühestens mit acht Jahren allein zu Hause zu lassen. „Kinder unter acht Jahren sind bei Oma, Nachbarin,  Tagesmutter oder im Hort besser aufgehoben“, sagt die Hamburger Diplom-Psychologin Sybille Weber. „Aber auch Kinder unter zehn sind noch überfordert, wenn sie die ganze Woche ihre Nachmittage selbst organisieren sollen.“ Auch ältere Grundschüler sollten also noch nicht ganze Nachmittage allein sein.

Wie schnell sind die Eltern da?

Ein weiterer Faktor ist auch, wie weit das nächste Elternteil von zu Hause weg ist. Sind es nur fünf Minuten mit dem Auto, ist dies etwas Anderes, als wenn Mutter oder Vater erst eine Stunde mit Bus und Bahn unterwegs sind, wenn das Kind Hilfe braucht. Manches lässt sich nur mühsam telefonisch regen, wie Birgit aus Neuss erzählt: "Meine Tochter rief mich an, dass zwei Mitarbeiter der Stadtwerke in unseren Vorgarten wollten, um nach einer defekten Leitung zu graben. Ich dachte natürlich sofort, das könnte ein Trick sein. Weil ich so schnell nicht heim konnte, habe ich die Stadtwerke angerufen. Sie bestätigten, dass es in der Straße ein Problem gab und nannten den Namen der Mitarbeiter vor Ort. Diese ganze Telefon-Aktion war aber extrem umständlich."

Das Kind nicht überfordern

Eltern sollten auch das Wesen ihres Kindes berücksichtigen. So darf es zum Beispiel keine Angst vor dem Alleinsein haben. Doch auch bei einem eher forschen Kind sollten Eltern bedenken, dass Kinder sich leicht selbst überschätzen: Was zunächst aufregend wirkt (unbeaufsichtigt zu sein), kann in der Realität beängstigender sein als gedacht. Auch Fachleute warnen davor, Kinder hier zu überfordern: "Kinder und Jugendliche gelten inzwischen als 'Experten ihres Lebens', die gut für sich selbst sorgen können. Sie bleiben, scheinbar mit gutem Grund, auf sich allein gestellt. Das Schlüsselkind der früheren Jahrzehnte ist zum Helden der neuen Zeit geworden", so der Erziehungswissenschaftler Prof. Bernd Ahrbeck kritisch. Wirkliche Selbständigkeit aber setze einen gesicherten emotionalen Hintergrund voraus, betont der Fachmann von der Humboldt-Universität Berlin. "Wünsche nach Nähe und Schutz, Anleitung und Unterstützung bedürfen einer intensiven Anteilnahme." Sind Eltern sich also unsicher, sollte die Waagschale immer in Richtung Geborgenheit ausschlagen und das Alleinbleiben verschoben werden.

Schlüsselkinder sind oft selbständiger

Ein "Schlüsselkind", das sich nicht ängstigt, schon recht reif und selbständig ist, kann aber durchaus auch profitieren: "Mein Sohn hat einen enormen Selbstbewusstseins-Schub bekommen und ist um Längen selbstständiger geworden. Er ist sehr stolz auf seinen Schlüssel und ist sich der Verantwortung durchaus bewusst", berichtet eine Mutter. "Moderne Schlüsselkinder sind weniger auf sich selbst gestellt als früher. Sie sind viel besser eingebunden und vernetzt, weil sie auch viel mehr Medien zur Verfügung haben. So können sie über Handy oder PC kommunizieren und ihr Alleinsein kompensieren", sagt auch Psychologin Sybille Weber.

Manche Eltern sind beruhigter, wenn zwei Geschwister "zusammen allein" sind. Ob das berechtigt ist, hängt vom Einzelfall ab: Ein älteres Kind kann durchaus die Sicherheit für ein jüngeres erhöhen. Umgekehrt gibt es aber Kinder, die zu zweit eher auf unkluge Ideen kommen als allein. 

Mit Netz und doppeltem Boden - 9 Tipps für Eltern

Ob Eltern berufstätig sind, oder ob sie nur zum Einkaufen gehen - wer sein Kind allein zu Hause lässt, sollte einige Dinge vorher festlegen. "Eine Regel bei uns ist: Wenn er zu Hause reingekommen ist, ruft mein Sohn mich auf dem Handy an. Da kann ich ihm dann auch sagen, wie lange ich noch brauche, bis ich von der Arbeit zu Hause bin", erzählt eine urbia-Userin. Was Eltern vorab außerdem sicherstellen sollten:

  • Das Kind bleibt anfangs nur sehr kurz allein, damit die Eltern schauen können, wie es damit zurechtkommt.
  • Der Nachwuchs öffnet keinem Fremden die Tür. Eltern schließen die Tür aber niemals ab, denn bei Feuer oder einer Verletzung kann das Kind sonst nicht fliehen oder Hilfe holen.
  • Tochter oder Sohn haben immer ein Handy dabei, auf dem die Nummern der Eltern gespeichert sind.
  • Wenn das Kind sich krank fühlt oder den Schlüssel verloren hat, gibt es eine oder zwei Nachbarinnen, bei denen es klingeln kann.
  • Soll das Kind schon zu Mittag essen, steht am besten ein vorgekochtes Gericht oder Fertig-Snack in der (voreingestellten) Mikrowelle bereit. Hier kann - im Gegensatz zu Ofen oder Herd - auch bei Vergessen nichts so leicht verkohlen.
  • Absprechen, ob Sohn oder Tochter bereits mit den  Hausaufgaben anfangen sollen.
  • Entscheiden, ob das Kind Freunde zum Spielen hereinlassen darf. Was allein gut klappt, kann mit zwei oder drei temperamentvollen Kindern weniger optimal sein.
  • Darf der Nachwuchs das Haus verlassen, um sich mit Freunden zu treffen, muss er die Eltern anrufen und sagen, wohin er geht.
  • Wenn sie zusagen, um 14 Uhr zu Hause zu sein, dürfen die Eltern nicht erst eine halbe Stunde später kommen. Aber auch das Kind kommt zügig und ohne Umweg heim.