Wie viel darf mein Kind wissen?
Nach dem aktuellen Anschlag in Manchester und angesichts der täglichen schlimmen Nachrichten aus Krisenregionen fragen sich Eltern immer wieder: Wie viel dürfen Kinder bereits von der Grausamkeit der Welt wissen? Ein Interview - geführt aus Anlass des 11. September - aktuell wie nie.
Kinder informieren: Ja oder nein?
Vor fast 16 Jahren haben die Terror-Anschläge vom 11. September in den USA die Menschen im Westen jäh aus dem Gefühl der Sicherheit gerissen, in dem sie sich zuvor wiegen durften. Mit den Anschlägen von Paris und jetzt in Manchester sind solche furchtbaren Ereignisse allgegenwärtig.
Besonders schmerzlich bekommen das viele Eltern zu spüren, die vielleicht erstmals vor der Frage stehen, wie sie ihren Kindern derart grausame Seiten unserer Welt vermitteln können. In zahlreichen Stellungnahmen raten Experten Eltern, mit ihren Kindern über die Geschehnisse zu sprechen. Andere Stimmen jedoch warnen auch davor, Vorschul- und Grundschulkinder mit den Informationen und Bildern der Anschläge, von Krieg und Terror zu überfordern. urbia hat nachgehakt und mit Jürgen Detering, Kinder- und Jugendpsychotherapeut und Vorsitzender der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung, gesprochen.
Sie haben auf der Website der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung wie einige andere Experten dafür plädiert, mit Kindern über die schlimmen Geschehnisse zu sprechen. Könnten Sie hier noch einmal begründen, warum?
Detering: Bis zum neunten oder zehnten Lebensjahr orientieren sich Kinder über die Geschehnisse in der Welt und um sie herum anhand der Gefühlsbefindlichkeit der Eltern. Das heißt, sie ordnen Ereignisse nicht nach den objektiven Fakten ein, sondern danach, wie die Eltern damit umgehen. Wenn Erwachsene also über etwas bestürzt sind, bekommen sie für die Kinder eine andere Bedeutung. Daher sollten Eltern mit den Kindern über die Geschehnisse sprechen, wenn sie selbst davon stark berührt sind.
In den Stellungnahmen von Psychologen etc. ist häufig allgemein von "Kindern" die Rede, ohne Differenzierungen bezüglich des Alters. Es waren aber auch Stimmen von Fachleuten zu hören, die sich dafür aussprachen, Kinder im Vorschul- und frühen Grundschulalter vor derart schrecklichen Informationen zu schützen, da sie eine Überforderung darstellten. Wie stehen Sie dazu?
Detering: Fachlich haben diese Kollegen vollkommen Recht, aber leider sieht die Lebenswirklichkeit meist anders aus, da in den Wohnzimmern der Fernseher ununterbrochen flimmert.
Es wird immer wieder geraten, präsent zu sein, wenn Kinder fernsehen, bzw. die Nachrichten sehen: Kann es überhaupt sinnvoll sein, dass beispielsweise ein sechsjähriges Kind die Original-Bilder des Attentats auf das World-Trade-Center in den TV-Nachrichten sieht?
Detering: Es ist sehr schwer, hier eine Grenze zu ziehen. Ich würde jedoch sagen, dass dies für Vorschulkinder und Kinder im Grundschulalter bis zum Ende der zweiten Klasse nicht sinnvoll ist.
Nur das beantworten, wonach das Kind fragt
Wie spreche ich adäquat mit meinem Kind über so schreckliche und verunsichernde Ereignisse?
Detering: Nicht ausschweifend, kurz und knapp. Eltern sollten genauso viel antworten, wie das Kind fragt. Denn es dient dem natürlichen Selbstschutz der Kinder, dass sie im Allgemeinen nicht mehr fragen als sie verkraften können zu hören.
Dürfen Kinder eigentlich mithören, wenn Erwachsene miteinander über Attentate, mögliche Kriegsgefahr etc. sprechen?
Detering: Solche Gespräche sollte man besser nicht in Gegenwart von Kindern führen. Sie werden sonst mit Dingen konfrontiert, die sie eigentlich nicht verkraften können.
Macht es Sinn, dem Kind auch meine Ängste mitzuteilen?
Detering: Ja, denn wenn ich Angst habe, spürt das Kind dies. Und wird stark verunsichert, wenn ich meine Ängste leugne oder zu überspielen versuche. Ein Kind fühlt sich dann möglicherweise allein gelassen und kann seinen eigenen Wahrnehmungen nicht mehr trauen.
Wie können Kinder Ereignisse wie die Attentate in den USA verarbeiten?
Detering: Kinder spielen die Geschehnisse häufig immer wieder durch. Da ist es ganz wichtig zu sehen, das ist kein schlimmes Kind, wenn es zum Beispiel mit Bauklötzen zwei Türme aufbaut und sie mit dem Spielzeugflieger immer wieder zum Einsturz bringt. Kinder versuchen so, das Ereignis zu verstehen und zu verarbeiten.
Kindern bei der Verarbeitung helfen
Was können Erwachsene aktiv tun, um Kindern bei der Verarbeitung zu helfen?
Detering: Sie können sich miteinander beschäftigen und einfach das tun, was sie immer getan haben, um sich zu vergewissern: Es gibt uns noch und wir leben. Das ist in jeder Familie etwas anderes, die einen singen vielleicht zusammen Lieder, die anderen spielen Monopoly oder machen einen Waldspaziergang. Die Erschütterung, die ein solches Ereignis auslöst, besteht ja darin, dass unser Alltag in Frage gestellt wird, dass uns die Sicherheit, dass wir morgen noch so weiterleben können wie bisher, genommen wurde. Indem wir das tun, was wir stets gemacht haben, gewinnen wir unsere Sicherheit Stück für Stück zurück.
Was tun, wenn Kinder auf diese belastenden Informationen mit starken Ängsten (zum Beispiel abends oder nachts) reagieren?
Detering: Zum einen ist es dann wieder besonders wichtig, dass es in der Familie Rituale zum Schlafen-Gehen gibt. Zum anderen kann die Familie ein wenig enger zusammenrücken und es dem Kind beispielsweise erlauben, für eine begrenzte Zeit im Elternschlafzimmer zu schlafen, um ihm das Gefühl zu geben: Wir sind wirklich da.
Weitere Tipps und Informationen:
- Noch Fragen oder Probleme? Hier geht es zur kostenlosen Internet-Beratung für Eltern der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung
- Unter Friedenskultur kannst du eine Reihe von Geschichten finden, die hilfreich sein können, mit den Kindern den Schrecken aufzuarbeiten. Die Texte stammen aus dem Buch "Der seltsame Krieg", erschienen bei Beltz & Gelberg. Der österreichische Autor Martin Auer hat sich mit Zustimmung des Verlags bereit erklärt sie zum kostenlosen Herunterladen zur Verfügung zu stellen.