Märchenhaftes Grauen – grauenhafte Märchen?
Als Kind fand urbia-Autorin Kathrin Wittwer Mädels mit roten Käppchen und tapfere Schneiderlein ziemlich unterhaltsam. Heute als Mutter macht sie sich angesichts mordlustiger Stiefmütter und Eltern, die ihre Kinder aussetzen, eher Sorgen um das seelische Wohlbefinden ihrer märchenverrückten Tochter.
Märchenlust und Märchenfrust
Wesentlich mehr kann ich ihrer Märchenbegeisterung allerdings nicht mehr abgewinnen, seit mich bei einem Puppentheater rund ums Pfefferkuchenhäuschen ein erster halber Herzinfarkt traf: Dass die Eltern die Kinder schlicht im Wald ausgesetzt hatten, war mir komplett entglitten. Zum Glück interessierte sich meine Tochter mehr für die nebenbei ausgeteilten Kekse als für kritische Fragen zur gestörten Eltern-Kind-Beziehung, und ich blieb mit meinen Grübeleien über die Konsequenzen fürs Vertrauensverhältnis zwischen den traumatisierten Geschwistern und ihrem unzuverlässigem Vater allein.
Wissenslücken zwischen "Es war einmal" und "bis an ihr Lebensende"
Als dann im nächsten Monat „Die Bremer Stadtmusikanten“ auf dem Kindergartenprojektprogramm standen, wurde mir klar: Es ist höchste Zeit für eine Bildungsoffensive. Denn meine Wissenslücken bezüglich der Geschichten, die sich zwischen „Es war einmal“ und „Sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende“ abspielten, stellten sich als beträchtlich heraus. Mein Mann war da auch keine Hilfe. Also besorgten wir Grimms schönste Märchen, hübsch altmodisch illustriert, in einem dicken Buch, wie es sich für Märchen gehört. Zwei Wochen später waren wir reif für Hörspiele: Unsere Stimmen machten das vom Kind gewünschte Marathonvorlesen einfach nicht mehr mit. Seitdem irren die bedauernswerten Hänsel und Gretel in unserem CD-Spieler in Endlosschleife durch den Wald. Hin und wieder gönnen ihnen Rotkäppchen, Schneewittchen oder Dornröschen eine Pause. Mir leider nicht. So hatte ich ausreichend Gelegenheit, mich in die Details des ein oder anderen Märchens zu vertiefen – und ein ums andere Mal fassungslos den Kopf zu schütteln. Denke ich jetzt an Märchen, sehe ich vor meinem geistigen Auge einen gruselig dunklen Wald, in dem Wolfsaugen gefährlich funkeln und das boshafte Lachen alter Hexen schallt, die mit knochigen Fingern und dem Versprechen von Süßigkeiten kleine Kinder anlocken. Und auf der anderen Seite machen sich heimlich die Eltern aus dem Staub.
Rabeneltern wo man steht und geht
Ganz ehrlich: Eltern sind doch wirklich ernste Härtefälle bei den Grimms. Hänsel und Gretels rückgratloser Vater, der sich von seiner kaltherzigen Frau zur Aussetzung der Kinder überreden lässt, ist ja nur ein Übel in diesem Haufen. Denken wir mal an Mutter Rotkäppchen: Wer ist denn so unverantwortlich und lässt sein Mäuschen allein durch den Wald stapfen, wenn bekannt ist, dass da der Wolf umher schleicht? Wie hilfreich ist wohl der Hinweis „Hüte Dich vor dem Wolf!“ für ein unbewaffnetes kleines Mädchen? Ebenfalls extrem fragwürdig: Schneewittchens Vater. Wo steckte der Kerl, während Stiefmama das Kind verschleppen und aus der Welt schaffen ließ? Hat er zwischen all seinen Amtsgeschäften nicht bemerkt, dass Töchterchens Platz am Abendbrottisch leer blieb? Kann man es sich als König nicht mal leisten, ein paar Fragen zu stellen und zwischen den Regierungsterminen flink einen Suchtrupp loszuschicken? Und: Wo war eigentlich das Jugendamt?
… und die Nachwuchshoheiten sind keinen Deut besser
Wo wir schon mal beim Zwergenfräulein sind: Was bitte ist mit ihrem tollen Prinzen? Der steht auf minderjährige Mädels im Glassarg, mit denen er noch nie ein Wort gewechselt hat, aber den sieben Männern ihrer WG versichert, niemanden sonst auf der Welt so sehr zu lieben. Die anderen Blaublüter auf Partnersuche im Märchenwald sind nicht wesentlich tiefsinniger: Der soziale Status als Regentenspross, ein hübsches Lächeln oder aparte Locken reichen – schon ist man der Meinung, auf der Stelle eine Familie gründen zu müssen, die dann ein Leben lang halten soll. Na klar. Von Emanzipation ist bei den Heldinnen auch nicht viel zu spüren: Solange irgendwann mal jemand nicht ganz Unansehnliches kommt und noch Platz auf dem Pferd für sie hat, sind sie zufrieden. Mir graut bei dem Gedanken, dass mein Kind ihre späteren Beziehungen womöglich an solchen Idealen misst.
Lerneffekte für Mutter und Kind
Ja, ja, ich weiß schon: Kinder sehen und verstehen das alles ganz anders. Sie brauchen das einfache Gut-Böse-Schema der Märchen und lernen viel aus ihnen. Ich finde es in der Tat enorm hilfreich, dass mein Kind Ausdrücke wie „Gute Ware feil, feil“ oder „Es hatte kein Arg“ für sich mitnimmt. Verinnerlicht hat sie außerdem bereits: Gift muss man immer aus dem Mund holen, Hexen gehören in den Ofen, „Fröniginnen“ (Frau Königinnen) sind unfreundlich, mit Wölfen geht man nicht mit und Schnürriemen sollte man besser nicht zu eng schnallen. Echt praktisch. Unser Nachbar hat nun eine löchrige Auffahrt, dafür weisen seine Kieselsteine meinem Kind ab sofort auch im Mondschein den Weg zur Kita. Äpfel sind bis auf weiteres vom Speiseplan gestrichen, seit sie sich kürzlich an einem verschluckt hat: Wer weiß, ob nicht am Ende noch einer stecken bleibt – und was, wenn dann kein hilfreicher Zwerg in der Nähe ist? Und beim nächsten Besuch im Naturpark wird mein Kind wahrscheinlich das Gelände rund ums Wolfsgehege professionell nach rumpelnden, pumpelnden Wackersteinen abscannen und schon mal unauffällig nach der Nagelschere in Mamas Handtasche greifen.
Für mich heißt das vor allem eins: Es gilt genau zu überlegen, welche Geschichten wir als nächstes einführen und welche Konsequenzen diese für unser Leben haben werden. Wird das Kind nach dem gestiefelten Kater zukünftig jede vorbeistreunende Katze in Schuhe stecken wollen? Dem tapferen Schneiderlein nachahmend Fliegen jagen und einen Preisgürtel für erlegte Insekten verlangen? Auf meinen Wunsch hin, sie möge den Tisch decken, mit den Fingern schnipsen und dann bedauernd auf defekten Zauber verweisen?
Moderne Gretels brauchen keinen Hänsel
Immerhin scheint meine Tochter mit Märchen prima ihr Gedächtnis zu schulen. Wenn sie darum bittet, „Hänsel und Gretel“ hören zu dürfen, erzählt sie uns die erste Minute des Hörspiels fehlerfrei vor, damit wir auch genau wissen „DAS will ich hören, ja?“ und nicht am Ende noch die falsche CD einlegen. Mitten in Mahlzeiten zitiert sie plötzlich „Ich schaue nach meinem Kätzchen, das sitzt oben auf dem Dach und will mir ade (Mama, das heißt Tschüß) sagen. – Unsinn, das ist die Morgensonne, die auf den Schornstein scheint.“ Schlagen die sturmgepeitschten Weiden im Garten ans Haus, lässt meine Tochter prompt ein „Der Wind, der Wind, das himmlische Kind“ erschallen.
Eine Sache lässt mich hoffen, dass mein Kind die märchenhaften Lehren einigermaßen kompatibel mit der modernen Gesellschaft interpretiert: Den Part der Heulsuse, die vom Brüderchen ständig getröstet werden muss, schlicht ignorierend, hat sie beschlossen, als Gretel keinen Hänsel an ihrer Seite zu brauchen: „Gretel ist doch ganz schön schlau.“ Heißt: Als moderne, starke Frau kommt sie sehr gut allein zurecht. Zwielichtige Hexen sollten sich also auf jeden Fall mal besser gaaanz weit von unserer Küche fern halten…