Muss ich mein Kind immer lieb haben?
Natürlich lieben wir unser Kind. Sehr sogar. Gut, vielleicht nicht ganz so sehr, wenn das Kleinkind Himbeersaft auf die weiße Couch geschüttet oder der Teenie sich hat piercen lassen, ohne zu fragen. Manchmal sind die Gefühle gegenüber dem Nachwuchs alles andere als liebevoll. Warum Eltern sich dafür nicht schämen müssen.
Man kann sein Kind nicht 24 Stunden täglich (nur) lieben
„Wenn meine Tochter Hausaufgaben macht, gibt es immer wieder Situationen, wo sie mich unheimlich nervt. Hat sie zum Beispiel eine Frage an mich, hört sie sich die Erklärung gar nicht an, sondern schreit nach wenigen Sekunden: ‚Das stimmt doch gar nicht!’ Manchmal wirft sie dann vor Ungeduld ihre Hefte auf den Fußboden. Diese Art mag ich überhaupt nicht an ihr. Zum Glück ist das immer nur kurz“, berichtet Andrea M. (39), Mutter von zwei Kindern (5 und 12). „Ehrlich gesagt finde ich es langweilig, mit meinen Kindern zu spielen. Ich muss mich richtig zu Memory oder so zwingen. Ich zähle beinahe die Minuten und bin froh, wenn es vorbei ist“, gibt Dorothee M. (43) zu. „Ich mache deshalb lieber etwas mit ihnen, das auch mir Spaß macht, zum Beispiel backen oder auch musizieren.“
„Es kommt im Alltag immer wieder vor: Es gab vielleicht schon drei nervige Situationen mit meinen Kindern, die ich gut gemeistert habe. Die vierte Situation ist dann eine zuviel und jagt mich auf die Palme. Ich glaube aber, im Kern liebt man sein Kind trotzdem immer“, beschreibt Sophia M. (43) ihre Gefühle. „Es ist wie bei einer Zwiebel, man hat nicht immer Zugriff auf das Innerste. Es ist aber immer da, wenn auch überlagert von den Nervereien im Alltag. Dass die Liebe nie ganz weg ist, wird ja auch klar, wenn man überlegt: Was wäre, wenn dem Kind jetzt etwas passieren würde? Egal, wie sauer man gerade noch war, die Liebe wäre doch dann sofort da.“
Manchmal reagieren Eltern auch ablehnend in Situationen, in denen früher ihre eigenen Eltern vielleicht ungeduldig reagiert haben. „Wenn mein kleiner Sohn hinfällt, fällt es mir schwer, ihn zu trösten. Ich schimpfe dann und sage: ‚Siehst du, das kommt davon, dass du nie guckst, wohin du läufst!“, erzählt Jennifer H. (38). „Meine Eltern taten sich auch immer schwer damit, uns Geschwister zu trösten. Ich habe in so einem Moment auch eine richtige Blockade. Erst nach einigen Momenten schaffe ich es, auf ihn zuzugehen. Später tut es mir oft Leid, dass ich nicht liebevoll reagiert habe.“
Die Anderen scheinen immer die besseren Eltern zu sein
Es gibt auch in unserer aufgeklärten Gesellschaft noch Tabus, die wir kaum in Frage stellen. Eines davon ist, sein Kind nicht stets und bedingungslos zu lieben. Der Mutter-Mythos, wonach eine Frau immer geduldig und liebevoll auf jede noch so schwierige Situation mit ihrem Kind zu reagieren hat, ist nicht totzukriegen. Zwar ahnen Frauen längst, dass etwas nicht stimmt mit dieser Erwartungshaltung, die sie da verinnerlicht haben. Doch stellen sich trotzdem fast automatisch Schuldgefühle ein, wenn sie auch einmal Abneigung gegenüber ihrem Kind empfinden. Verstärkt werden diese Gefühle noch durch die starke Psychologisierung des Lebens: Eltern, so verstehen viele Laien die Botschaft der Psychologie, seien grundsätzlich an allem Schuld, was mit ihren Kindern nicht geradlinig laufe – und zudem allein und ununterbrochen dafür verantwortlich, dass ihr Kind später zu einem glücklichen Menschen wird.
Sie könne sich nicht daran erinnern, "jemals eine Mutter behandelt zu haben, die nicht ‚Geheimnisse’ hütete über die Art und Weise, wie ihr Verhalten und ihre Gefühle ihren Kindern geschadet hätten", schreibt auch die amerikanische Psychoanalytikerin Shari Thurer von der Universität Boston. Vor allem Mütter (einen Vater-Mythos gibt es nämlich nicht) werden also insgeheim von Befürchtungen geplagt, mit dieser oder jener ungeduldigen Reaktion bestimmt irgendwelchen seelischen Schaden beim Kind angerichtet zu haben. Die Schuldgefühle verhindern aber zuverlässig, dass Mütter (und auch Väter) untereinander über ihre Empfindungen reden. Und dies wiederum führt dazu, dass sie sich allein auf weiter Flur wähnen unter all jenen, die wahrscheinlich „bessere“ Eltern sind als sie selbst.
Auch in der Liebe gilt: Kein Licht ohne Schatten
Dabei könnten Eltern mit ihren überhöhten Selbstansprüchen aufhören und aufatmen. Es geht nämlich anderen Müttern und Vätern nicht anders als ihnen. „Nur Zen-Meisterinnen, die zur Erleuchtung gelangt sind, schauen auf ihre schwierigen, außer Kontrolle geratenen Kinder – und fühlen nichts als immense Achtung, Offenheit und Neugier“, beruhigt die Familientherapeutin Harriet Lerner. „Meine Kinder“, so bekennt auch die Dichterin Adrienne Rich, „lösen bei mir das heftigste Leid aus, das ich kenne: Den Schmerz des Hin- und Hergerissenseins, des mörderischen Wechsels zwischen bitterer Ablehnung und angeschlagenen Nerven einerseits – und der seligsten Freude über die Kinder andererseits.“
Dieses Hin- und Hergerissensein ist ganz natürlich, findet Gwendolyn Fischer: „Indem ich (...) mich um meines Kindes willen in meinen Himmel dehne, entfessele ich gleichzeitig einen anderen Menschen in mir, der finster ist. Gerade die Anstrengungsbereitschaft, die Bereitschaft zu tätiger Liebe, führt einen schonungslos an die eigenen Defizite heran. Eine Schere geht auf: der Himmel öffnet sich, und der Abgrund öffnet sich auch“, beschreibt die Pfarrerin die zwiespältigen Erfahrungen von Eltern.
Ungute Emotionen lösen Scham aus
Diesen Abgrund benennt die Psychotherapeutin Rozsika Parker noch drastischer: Sie spricht sogar von Hassgefühlen, die Mütter und Väter in manchen Augenblicken ihrem Kind gegenüber haben können: „Ich habe viel mit Begriffen herum probiert. Aber letztendlich hat kein anderes Wort die harschen Gefühle getroffen, die so viele Eltern zeitweise empfinden: den Groll, die Feindseligkeit, das Aufgebrachtsein, die Wut und die Abneigung.“ Auf solche Gefühle der Abneigung reagierten besonders Mütter aber mit Scham, sie fühlten sich als schlechte, unnatürliche Mutter. Hier entstehe leicht ein Teufelskreis, weil sie ihr eigenes Kind dann unbewusst als Auslöser schlechter Gefühle wahrnähmen - was dann wiederum negative Gefühle gegenüber dem Kind verursache, so die Autorin des Buches „Torn in Two: The Experience of Maternal Ambivalence“ (engl. Entzwei gerissen: die Erfahrung mütterlicher Ambivalenz).
Schlechte Gefühle sind wichtig – auch für die Kleinen
Wenn man als Mutter den Anspruch hat, ein lebender Engel zu sein, dann sind die weniger schönen Gefühle dazu verdammt, in der Unterwelt der Seele vor sich hinzuglimmen. Sie haben dabei die unangenehme Angewohnheit, an Stellen durch die Oberfläche zu brechen, wo man sie gar nicht brauchen kann. Dies kann in Form plötzlicher Wutausbrüche geschehen, die gar nicht zum eigentlich nichtigen Anlass passen. Oft aber auch in einer besonders kritischen, unterschwellig gereizten Haltung gegenüber dem Kind. Manche Mütter versuchen auch unbewusst, negative Gefühle zu kompensieren durch zu große Verwöhnung oder durch eine übervorsichtige, übertrieben besorgte Haltung.
Wer negative Emotionen bei sich selbst nicht annehmen kann, gesteht sie außerdem auch seinem Kind oft nicht zu. Kinder möchten aber authentische Eltern mit Ecken und Kanten, denn nur so können auch sie hoffen, trotz all ihrer kleinen Fehler und Unzulänglichkeiten geliebt zu sein. Das Wahrnehmen der eigenen Gefühle ist also nicht nur für die Eltern wichtig, sondern auch für das Kind. „Kinder müssen uns manchmal verrückt machen. Sie müssen erfahren, dass sie einen großen Einfluss auf uns haben, dass sie uns Eltern auch verletzen können – und wir dies dennoch aushalten. Wenn eine Mutter sich gegenüber ihrem Kind so geben kann, wie sie ist, also echte Freude, Hass, Liebe, Zufriedenheit zeigen kann, dann hilft sie auch dem Kind, sich selbst kennenzulernen“ schreibt Parker. Sie hat sogar die Erfahrung gemacht, dass manche Kinder im selben Moment aufhören, sich „anstrengend“ oder provokativ zu verhalten, in dem ihre Mütter ihre negativen Gefühle endlich anerkennen und auch ausdrücken.
Wie mit negativen Emotionen umgehen?
Auch schlechte Gefühle auszuleben – dies sollte natürlich von Seiten der Eltern auf eine Weise geschehen, die die junge Kinderseele nicht verletzt. Die das Kind also weder körperlich noch verbal angreift, es nicht erschreckt und nicht demütigt. Manchmal reicht es schon, wenn Eltern nur für sich selbst und im Stillen eingestehen, dass sie mehr Gefühle zum Kind besitzen als nur die reine Liebe. In angespannten Situationen empfehlen Psychologen außerdem, nicht das Kind, sondern nur sein Verhalten innerlich zu bewerten, also nicht zu denken: „Ich mag mein Kind nicht“, sondern: „Ich mag nicht, wie sich mein Kind gerade verhält.“
Manchmal aber müssen negative Gefühle auch raus. Hier helfen die berühmten Ich-Sätze, die sich in der Kommunikation zwischen Menschen immer wieder bewähren: „Ich bin gerade enttäuscht, weil ich mir mit dem Kochen solche Mühe gegeben habe.“ „Ich bin stinksauer, weil wir ausgemacht hatten, dass du mit dem Piercing wartest, bis du 18 bist.“ „Ich habe mich gerade total erschrocken, weil du dir weh getan hast.“ Wer einen Wutanfall nicht unterdrücken kann, sollte sich vom Kind abwenden (noch besser: rausgehen) und ein bisschen in eine Ecke oder in Richtung Zimmerdecke schimpfen „Ooooh, ich bin gerade so sauer, ich platze gleich!“
Bekommt man ablehnende Gefühle in manchen Situationen nur schwer in den Griff oder haben Eltern und Kind gerade eine besonders anstrengende Phase zusammen („Trotz“- oder Selbständigkeitsalter, Pubertät usw.), ist eine Technik ideal, die wir den fernöstlichen Philosophien zu verdanken haben: das Achtsamkeitstraining. Mit etwas täglicher Übung hilft es, aufkommende Wut früher zu bemerken – noch bevor sie übermächtig wird (s. Serviceteil am Textende). Auch andere Gefühle (Langeweile, Gereiztheit, Ablehnung) werden dabei früher, bewusster und mit ein klein wenig innerer Distanz wahrgenommen (und dabei nicht bewertet). Sie können so nach einiger Zeit mit mehr Gelassenheit gehandhabt werden.
Wenn die Liebe dauerhaft weg bleibt
Wichtig ist bei dem Gesagten, dass die Gefühle der Ablehnung nur vorübergehender Natur sind: „Natürlich haben Mütter alle nur vorstellbaren Gefühle. Innerhalb eines einzigen gewöhnlichen Tages oder auch nur einer Stunde können sie das ganze Spektrum von rasender Wut über schlichten Frust und Angeödetsein bis hin zu reinem Entzücken und wieder zurück zu blanker Wut durchlaufen“, betont Harriet Lerner. Manchmal jedoch kommt es vor, dass eine Mutter das Gefühl hat, ihr Kind nicht nur in manchen Momenten, sondern dauerhaft nicht genug lieben zu können. Dieses Gefühl sollte sie ernst nehmen. Denn es gibt auch Störungen der Beziehung zwischen Mutter (oder Vater) und Kind, die tiefer gehend sind. Oft liegen die Gründe in der Kindheit der Eltern: wenn zum Beispiel die eigenen Eltern überfordert oder emotional unterkühlt waren. Wer selbst zu wenig Zuwendung erfahren hat, kann oft auch nur schwer Zuneigung zum Kind empfinden.
Manchmal liegt es aber auch daran, dass die Mutter (oder der Vater) noch sehr jung ist, oder die Frau vielleicht ungewollt schwanger geworden ist, bzw. der Vater noch kein Kind wollte. Es fällt dann besonders schwer, die eigenen Bedürfnisse ständig zurückstellen zu müssen. Auch eine Depression kann Gefühle erkalten lassen. In allen Fällen sollten Betroffene den wichtigsten Schritt wagen: herauszukommen aus der unnötigen Scham und dem Verschweigen. Man kann zunächst mit dem Partner oder mit Freund(inn)en reden. Manchmal ist weiter gehende Hilfe von Fachmann oder Fachfrau nötig, etwa mit jemandem von einer Familienberatungsstelle. Kostenlose Beratungsgespräche bieten z. B. Pro Familia, Caritas, Diakonie oder auch die Familienberatungsstelle der örtlichen Stadtverwaltung.
Zum Achtsamkeitstraining:
Jon Kabat-Zinn: „Mit Kindern wachsen: Die Praxis der Achtsamkeit in der Familie“, Arbor-Verlag 2006, ISBN-13: 978-3936855487. Dr. Jon Kabat-Zinn ist Medizin-Professor und hat in Büchern und Vorträgen die fernöstliche Haltung der Achtsamkeit für die westliche Medizin und Psychologie nutzbar gemacht, u. a. indem er den religiösen Überbau weitgehend entfernte.