Geheimtipps: Kinderbücher
Wenn Mütter und Väter ihren Kindern etwas vorlesen, greifen sie gerne zu den Büchern, die sie selbst in ihrer Kindheit liebten. Das sind oft altbekannte Klassiker, aber auch ganz persönliche Geheimtipps. urbia stellt in diesem Artikel einige davon vor.
Vorlese-Eltern bevorzugen ihre eigenen Buch-Klassiker
Wenn Erwachsene Kindern Bücher kaufen, kaufen sie selten Neuerscheinungen. Lieber greifen sie zu den Büchern, die sie in ihrer eigenen Kindheit vorgelesen bekommen und geliebt haben. In den alten Bundesländern kaufen sie die Westklassiker, und in den neuen Bundesländern kaufen sie DDR-Kinderbücher, die zum Teil vor kurzem erst wieder neu aufgelegt wurden. Da wäre beispielsweise „Die Reise nach Sundevit“ von Benno Plundra. Darin geht es um Timm, den einsamen Sohn des Leuchtturmwärters, der sich riesig freut, als ein paar am Strand zeltende Jungs und Mädchen ihn zu eben jener Reise nach Sundevit einladen. „Ich habe das Buch als Kind geliebt!“, erzählt Carina aus Berlin in den Amazon-Kundenrezensionen, „Man konnte von Strand und Ostsee träumen und hat Timm um seinen Wohnort beneidet.“ Und über den Ost-Klassiker „Das Wildpferd unterm Kachelofen“ von Christoph Hein, in dem ein Esel, ein falscher Prinz und ein Clochard unter dem Sofa im Kinderzimmer wohnen, schwärmt G. C. Roth aus Ostfriesland: „Ein wunderbares Buch mit viel Herz und Güte gegenüber menschlichen Schwächen. Für Kinder bis achtzig, die sich den Blick für eine menschfreundliche Lebensweise erhalten wollen. Eine Perle in unserem Bücherschrank!“
Jedes Jahr werden rund 7000 Erstauflagen von Kinder- und Jugendbüchern auf den Buchmessen in Leipzig und Frankfurt vorgestellt. Die ehemalige Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen würdigte 2009 herausragende neue Titel, die auf Klischees verzichten und Kinder ernst nehmen, mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis. Und doch interessiert das eigentlich vor allem die Medien und die Buchhändler. Die typischen Vorleseeltern, die Sohn oder Tochter zum Geburtstag „quality time“ in Form von gemeinsamen Schmökerstunden schenken möchten, gehen ins Geschäft und verlangen „Pippi Langstrumpf“ von Astrid Lindgren oder „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ von Michael Ende. Das sind die Klassiker, die jeder kennt, die jeder im Regal stehen hatte und von denen jeder meint, ein Kind könne ohne sie nicht leben.
Die echten Geheimtipps: Weniger bekannte Lieblingsbücher
Spannend wird’s erst bei den Geheimtipps in Sachen Vorlesevergnügen. Denn außer an die ganz großen Titel erinnert sich doch jeder Erwachsene, für den Vorlesen und Kindheit zusammengehören wie Schneeweißchen und Rosenrot, auch noch an Lieblingsbücher, die weniger bekannt waren und trotzdem einen ganz besonderen Zauber ausübten. Mit ein bisschen Glück liegen sie, wenn der Nachwuchs ins entsprechende Alter kommt, noch in irgendeiner Kiste auf dem Dachboden versteckt. Mit ein bisschen Pech wurden sie längst aussortiert und sind nicht mal mehr im Buchhandel erhältlich, sondern nur noch gebraucht bei ebay oder über das „Zentrale Verzeichnis Antiquarischer Bücher“. Doch aufgepasst: Manche Werke haben mit der xten Auflage oder Übersetzung, womöglich bei einem neuen Verlag, einen anderen Namen bekommen. Und auf das Buchtitelgedächtnis eines Kindes ist auch nicht immer Verlass. Will sagen: Man prägt sich mit sechs oder sieben Jahren auch gern mal einen Fantasietitel ein, unter dem die Suchmaschine das ehemalige Lieblingsbuch 30 Jahre später natürlich nicht findet. Und dann wird’s besonders knifflig, es für die eigenen Kinder wieder aufzutreiben.
Aus Zauberbaum wurde Wunderweltenbaum
Eine Erfahrung, die ich mit meiner Lieblingskinderbuchreihe der britischen Vielschreiberin Enid Blyton, bekannt als die geistige Mutter der „Fünf Freunde“, machen musste. In meiner Erinnerung handelte es sich um drei dicke, knallrote Wälzer aus dem XENOS Verlag, die den Titel „Der Wunderbaum I, II und III“ trugen, da hatte ich nicht den geringsten Zweifel. Bis die Buchhändlerin ratlos den Kopf schüttelte und auch die Suche im Online-Büchermarkt keinen Treffer brachte. Schade. Ich hatte so schöne Erinnerungen an den mysteriösen „Wunderbaum“! Monate später fand meine Schwester beim Aufräumen zufällig ein Zettelchen mit der ungelenken Aufschrift: „Der Zauberwald, Der Zauberbaum und seine Freunde, Wir vom Zauberbaum“. Geheimbotschaft eines Kindes an sein eigenes Ich in der Zukunft. Damit konnte dann auch die Buchhändlerin etwas anfangen, denn in der (überhaupt nicht knallroten) Neuauflage des Deutschen Taschenbuch Verlags trug – Was für ein Glück! – zumindest der zweite Band noch denselben Titel. Aus dem „Zauberbaum“, in meiner Erinnerung „Wunderbaum“, war allerdings inzwischen der „Wunderweltenbaum“ geworden.
Geheimtipp Enid Blyton
Also, hier noch einmal die korrekten Titel: „Der Zauberwald“, „Der Wunderweltenbaum“ und „Die Wesen vom Wunderweltenbaum“ von Enid Blyton, eine unglaublich ideenreiche Phantasiereise für Kinder ab sechs (meint der Verlag) beziehungsweise ab vier (meine ich) Jahren: Eine Familie zieht mit ihren drei Kindern in ein Haus auf dem Land. Schon bald entdecken die Geschwister, dass hinter dem Gartentor ein Zauberwald beginnt, in dem die Bäume „Wünsche, Wünsche“ flüstern und in dem ein Wunderweltenbaum steht, dessen oberste Äste in verwunschene Länder hoch über den Wolken reichen. Schon im Baum begegnen die Kinder den kuriosesten Gestalten, doch jedes Mal, wenn sie sich in eines der Länder über dem Wipfel wagen, beginnt ein noch verrückteres Abenteuer. Ob sie in eine Art Schlaraffenland geraten werden und sich die Mägen mit Süßigkeiten voll stopfen können, oder ob die strenge Lehrerin Frau Knopfnuss sie mit ihren Schimpftiraden verfolgt, bis ihnen die Flucht gelingt – die Kinder wissen vorher nie, was sie erwartet. Und genau das macht für sie (und die kleinen Leser) den Reiz aus, immer wieder zum Wunderweltenbaum zurückzukehren. „Ich habe mir so sehr gewünscht, in diesem Haus zu wohnen, umgeben von einem Wald, in dem es Feen und Elfen gibt, und meinen Geburtstag im ‚Geburtstagsland’ zu feiern, von dem nur meine Geschwister und ich wissen“, seufzt meine Schwester, wenn wir uns an den „Wunderbaum“ erinnern, der niemals „Wunderbaum“ hieß.
Ein Maulwurf und ein Biest
Die Gründe, aus denen uns bestimmte Bücher, die uns in unserer Kindheit begleitet haben, in Erinnerung bleiben, sind vielfältig. Manchmal prägen sie sich der Illustrationen wegen ein. So zählt Ineke (31) aus Taunusstein „Wie der Maulwurf zu seinen Hosen kam“ von Zdenek Miler zu ihren Kinderbuchfavoriten und freut sich schon darauf, es ihren für Herbst erwarteten Zwillingen bald vorzulesen: „Der kleine Maulwurf ist einfach unheimlich süß gezeichnet! Und die Geschichte der Entstehung einer Hose aus dem Rohmaterial Flachs hat mich als Kind total fasziniert. Noch heute könnte ich genau beschreiben, wie Flachs aussieht, wie man ihn trocknet, und wie man daraus ein Kleidungsstück schneidert.“ Ebenfalls der Illustrationen wegen lieben meine Söhne (5 und 3) und ich die Bilderbücher von Tomi Ungerer, vor allem „Das Biest des Monsieur Racine“. Wir finden sie allerdings gerade deshalb so faszinierend, weil sie NICHT so niedlich rüberkommen wie alles andere im Kinderbuchregal, und weil es beim genauen Hinsehen allerlei (gruselige) Details zu entdecken gibt. Da tropft das Blut noch vom Fleischwolf in der Küche und ein Landstreicher wandert mit einem abgehackten Fuß in seinem Bündel über die Gleise! Die Geschichte handelt übrigens von zwei Kindern, die sich unter einem Haufen Wolldecken als mysteriöses Tier verkleiden und sich mit einem sympathischen Rentner anfreunden. Empfehlenswert!
Mäxchen Pichelsteiner
Natürlich geht es bei der Liebe zu Büchern immer auch um Emotionen. Wenn uns ein Text als Kind zum Weinen oder zum Lachen gebracht hat, hat er gute Chancen, für immer in unserem Herzen zu bleiben. So hat Andrea (37) aus Berlin mit ihrem fünfjährigen Erstgeborenen gerade „Der kleine Mann“ von Erich Kästner fertig gelesen. Eine spannende Geschichte, voller Witz geschrieben: Es geht darin um den fünf Zentimeter großen Zirkusartisten Mäxchen Pichelsteiner, der von Gaunern entführt wird, weil sie ein Lösegeld erpressen wollen. „Obwohl die Sprache mit ihren veralteten Begriffen für meinen Sohn manchmal ein bisschen schwer zu verstehen war, hatten wir großen Spaß!“, erzählt Andrea, „Ich weiß noch, dass ich mir dieses Buch mit dreizehn zu Weihnachten gewünscht habe. Erich Kästner mochte ich schon immer, ich glaube, er war ein verdammt prima Kerl!“
Ritter Ullrich
Wie schön, wenn Vorlesen dank solcher Geheimtipps auch den Erwachsenen Spaß macht und mehr als eine allabendliche Pflichtübung zum Wohle der Kinder ist (denn mal ehrlich, welche Mami denkt nicht manchmal gelangweilt an den Einkaufszettel für morgen, während sie zum tausendsten Male die von Kindern so heiß geliebten „Bobo Siebenschläfer“-Bände vorliest)! Eine Lachmuskel-Trainingsgarantie gibt es auch für die dreiteilige Reihe „Ritter Ullrich“ von Michail Krausnick (Originalausgaben nur noch gebraucht oder weniger schöne Neuauflagen über Books on Demand). Hier wird Wissen übers Mittelalter anschaulich und hochkomisch in die Geschichte des Ullrich von Weissenberg verpackt, der sich gegen seinen Erzfeind Ritter Neithart von Schwarzacker behaupten muss. Eine Mordsgaudi, wenn die Figuren sich eine der damals typischen Eierschlachten liefern und ihre Feinde vom Burgtor herab mit Gülleeimern überschütten!
Drei Geheimtipps vom "Experten"
Zum Schluss noch drei Kinderbuchfavoriten unserer „Experten“: „Mein Jüngster ist drei Jahre alt und liest zur Zeit am liebsten die gereimten Geschichten von James Krüss“, erzählt die Berliner Mutter Andrea, „Die habe ich als Kind gemeinsam mit meiner Schwester nur so zum Spaß sogar auswendig gelernt! Ich sage nur: ‚Ein Pferd, das pflückte Dahlien, bei Sydney in Australien...’“ Die schwangere Ineke aus Taunusstein empfiehlt „Die Maus sucht ein Haus“ von Helen Piers (nur noch gebraucht). Außergewöhnlich daran ist die Art der Illustration mit Fotografien statt mit Zeichnungen: „Dieses Buch konnte ich als Kind unendlich oft hintereinander lesen. Zu jedem Bild gibt es einen Satz, und alles wiederholt sich ständig, ich kannte es in- und auswendig. Dazu die süßen Bilder von der Maus – seit ich das Buch besaß, wollte ich auch so ein Tierchen haben und habe es schließlich auch bekommen!“ Und nicht zuletzt liebt mein bis vor kurzem noch ziemlich schüchterner Sohn (5) das „Kätzchen Bangebang“ von Marjorie Barrows (nur noch gebraucht). Die kleine Samtpfote fürchtet sich nicht nur vor dampfendem Brei und tanzenden Schäfchen, sondern einfach vor allem und jedem, bis die Mutter sie eines Tages zu Doktor Eule schickt. Der steckt „Bangebang“ einen herzförmigen Aufkleber an die Brust, ein „tapferes Herz“, das Mut machen soll – und siehe da, es wirkt, beim Kätzchen und beim kleinen Leser.
So, und nun sind Sie dran: Welche weniger bekannten, aber empfehlenswerten Kinderbuchklassiker und -altertümchen, die Sie schon als Kind geliebt haben, lesen Sie heute Ihren eigenen Kindern vor? Haben Sie sie auf dem Dachboden oder auf dem Trödelmarkt gefunden? Und warum hängt Ihr Herz so sehr daran?
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