Was hält die Zukunft für unsere Kinder bereit?
Sprichworte sagen: Kinder sind Rätsel, die Eltern aufgegeben werden, Bücher, aus denen wir lesen können. urbia-Autorin Kathrin Wittwer wünscht sich für ihre Tochter da oft nicht nur Lösungshefte und Lesehilfen. Sondern gleich ein Orakel, das einen Blick in die Zukunft von Eltern und Kind erlaubt.
Platz da für die Jüngeren: Die Evolution kennt keine zweiten Sieger
„Zweiter ist auch Erster“ tröstet sich meine Tochter, wenn beim Spaghettiwettlutschen mal wieder Papa die Nase vorn hatte. Fünfter ist nach ihrer Rechnung auch noch Erster. Aber Sechster nicht mehr. Zum Glück besteht unser Haushalt nur aus drei Personen. Da sind wir praktischerweise immer alle Gewinner. Dass diese Regel allerdings nicht auf ewig für ein harmonisches Familienleben sorgen wird, diese Ahnung beschlich mich, als meine Vierjährige höchst interessiert wissen wollte: „Mama, wo wohnt ihr eigentlich, wenn ich mal groß bin und selber ein Kind habe?“ Es dauerte ein paar Sekunden, bis die wahre Bedeutung dieser Frage mein begriffsstutziges Hirn durchdrungen hatte – aber das Kind plant tatsächlich, uns aus dem Haus zu werfen und sich ins gemachte Nest zu setzen! Hält es für selbstverständlich, dass bei Bedarf die Alten ihren Platz für die Jungen freimachen. Die Evolution hat sie damit wohl auf ihrer Seite – und die kennt nun mal keine zweiten Sieger. Der Stoßseufzer „Ach, sie werden so schnell groß!“ kam mir in den Sinn und in leichter Panik versuchte ich zu überschlagen, wie viel Zeit uns eigentlich bleibt, bis wir das Feld räumen müssen.
Die Nostalgie der Vierjährigen: Als ich noch klein war…
Wären da nicht die kleinkindlich korrekten „Ich will aber nicht!“ bzw. „Ich will aber jetzt sofort!“-Trotz-Stampf-Wut-Anfälle, käme mir das Verhalten meiner Vierjährigen manchmal nämlich schon fast unheimlich erwachsen vor. Dass ein Kindergartenkind bereits von „früher“ spricht, von „damals“ als sie „noch klein“ war und über ihre fehlerhaften Baby-Aussprachen nur den Kopf schütteln kann, ist soweit ja ganz niedlich. Dass sie den Sitz der falsch angezogenen Gummistiefel im Ton eines perfekt britischen Understatements mit „Das ist mir recht unbequem“ kommentierte, ließ mich hingegen staunend eine Augenbraue hochziehen. Die zweite folgte nach, als sie die Frage der Großeltern, wie die lange Anreise zu ihnen verlaufen ist, würdevoll mit „Unsere Fahrt war ganz wunderbar“ beantwortete.
Mein Versuch, das Warum eines schwierigen Kindergartentags mit viel Streit und Heulerei zu ergründen, wurde mit einem abgeklärten „Ach Mama, das war eben einfach einer dieser Tage“ abgebügelt. Und Papa, der das versonnen zum Fenster hinausschauende Kind zum Abflug in die Kita aufrief, bekam „Ach Mensch, nie hat man Zeit, einfach mal in Ruhe nachzudenken“ zu hören. Seit ich um gewisse Zukunftspläne meines Nachwuchses weiß, die eine komplette Neudefinition unserer Wohnsituation zur Konsequenz hätten, finde ich solches gelegentliches Sinnieren nicht mehr süß, sondern frage mich misstrauisch: Was heckt sie noch alles aus?
Wenn die Elterngeneration überfragt ist
Zumal ich inzwischen befürchte, meinem Kind intellektuell nicht mehr das Wasser reichen zu können. Immer öfter muss ich sie und ihre Fragen mit einem schulterzuckenden „Das weiß ich nicht, da muss ich erst nachschauen“ hinhalten. Zum Beispiel bei: „Mama, warum haben Ampeln drei Augen untereinander? Reicht nicht eins, und dann blinken da die verschiedenen Farben hintereinander auf?“ Oder: „Warum finden alle Leute das Rumpelstilzchen so böse – er hat der Königstochter doch geholfen und die hat ihm das Kind versprochen. Und was man verspricht, muss man halten. Warum also ist das schlecht, wenn er will, dass sie ihr Versprechen hält?“ Für mich gab es mit vier nicht den geringsten Zweifel, dass ein cholerischer Kerl undurchsichtiger Herkunft ein Bösewicht ist, wenn er einer Mutter ihr Baby wegnehmen will, und auf die Idee, die Sinnhaftigkeit der landläufigen Ampelkonstruktion in Frage zu stellen, bin ich bis heute nicht gekommen.
Ein „Popilot“ greift nach dem Steuer
Überraschen sollte mich das Gefühl, mein 1-Meter-Kind sei mir in manchen Dingen bereits über den Kopf gewachsen, eigentlich nicht: Dass mein kleiner „Popilot“ vermutlich von Natur aus mehr Weisheiten auf Lager hat, als ich, der offizielle Kapitän unserer gemeinsamen Lebensreise, ihr je werde vermitteln können, schmiert sie mir bereits seit ihrer Zeugung bei jeder Gelegenheit aufs Brot. Das heißt aber nicht, dass ich mich nun gerade darauf freue, noch vor dem ersten Schulzeugnis jenen bezeichnenden Moment einer Eltern-Kind-Beziehung zu erleben, in dem das Kind der Mama nachsichtig-milde lächelnd etwas erklärt, was die ahnungslose alte Frau schlichtweg nicht kapiert und sich am Ende noch mit dem armseligen Verweis „Das gab es damals bei uns noch nicht“ verteidigt – der Moment, in dem ich endgültig wüsste: Jetzt hat mir die nächste Generation das Steuer aus der Hand gerissen.
Wird mein Kind ein digital dementer Yogi?
Fast ebenso beunruhigend ist allerdings, dass ich mich neuesten Katastrophenmeldungen zufolge bald weniger vor der natürlichen Schläue meiner Tochter fürchten müsste als um ihre Intelligenz: kollektive „digitale Demenz“, Verdummung durch Technik, ahnt jedenfalls ein Gehirnforscher für die Aufwachsenden im Medienzeitalter voraus. Vielleicht ist das übertrieben. Trotzdem ist mir unwohl dabei, dass meine Tochter schon mit drei das Wort „Laptop“ kannte und Papas schiebende Fingerbewegungen auf dem Handy perfekt nachahmt. Und nicht alle Einflüsse können wir steuern: Heute sind es „nur“ ästhetisch zweifelhafte Modekatzen und kitschige Feen-Pferde, die ohne unser Zutun, fast ohne unser Wissen, Hirn und Zimmer unseres Kindes beziehen – und in ein paar Jahren?
Andererseits ist ihre neue Lieblingsbeschäftigung: Kinder-Yoga. Und bei Husten weiß sie: Da helfen mir am besten Globuli, genau fünf Stück müssen es sein. Wo führt eine solche Kombination hin? Zu welchen Menschen wachsen diese Kinder heran? Kann es digital demente Yogi geben? Wie wird das, wenn ihre Generation einmal das Sagen hat? Was kommt, wenn „Ich bin grad auf dem Klo“-Meldungen endgültig langweilig geworden sind? Geht das noch schlimmer oder werden unsere Kinder soziale Netzwerke mal wirklich kreativ und sinnvoll für richtig nützliche Dinge verwenden?
Hex-hex! Ist die gute alte Zeit vorbei?
Mit Antworten darauf ist mein altmodisches Vorstellungsvermögen klar überfordert. Dazu muss ich erst noch deutlich mehr Lehreinheiten des Grundkurses „Die neue Welt mit Kindern entdecken" absolvieren. Zur Entspannung schiebe ich ein paar Wiederholungsstunden „Die gute alte Zeit" ein, in denen ich zufrieden spüre: Reisen in die Villa Kunterbunt und ein Flug mit Bibi Blocksberg auf Kartoffelbrei sind auch in der Gegenwart meiner Tochter immer noch magisch schön. Selbst wenn hundert „Hex-hex"-Sprüche täglich mich bis tief in den Schlaf verfolgen, bringen sie mir doch unbezahlbare Lacher, wenn mein Kind kreativ ihre schlechte Laune verschwinden lassen will: „Eene meene marschig, ich bin nicht mehr knarschig. Hex-hex!" Dass sie daran fest glaubt, macht mir obendrein Hoffnung, dass sie trotz aller altklugen Sprüche noch eine Weile ganz Kind bleiben wird. Ein Kind, das fröhlich unseren Familienwortschatz erweitert („Männer haben Pullerzipfel"), an ihren Tischmanieren feilt („Vor dem Nachschlag ess ich aber erst den Vorschlag") und Kuschelbedarf („Ich rück mich mal an dich ran") ebenso unwiderstehlich süß anmeldet wie Ärger („Mama, jetzt brennt die Bommel").
Hoffen auf Gnade für irrlichternde Mama-Kapitäne
Und ein Kind, das mich in einer meiner größten Sorgen als Mutter beruhigt hat – nämlich der, dass sie mir meine Erziehungsirrtümer bis in alle Ewigkeit nachtragen könnte: „Warum sind die Stiefschwestern von Aschenputtel so böse zu ihr?", wollte sie neulich wissen. Überrumpelt improvisierte ich was von „Na ja, manche Menschen sind so. Und die Mutter hat es wahrscheinlich nicht geschafft, ihren Kindern beizubringen, nett zu anderen zu sein und Rücksicht zu nehmen, und da haben es die Schwestern nie gelernt." Mein Kind nickte weise wissend: „Weiß Du was, Mama? Ich glaube, die böse Mutter hat es auch nie gelernt." Bei so viel Verständnis für grausame Stiefmütter sollte doch auch ein Krümelchen Milde für den Mama-Kapitän drin sein, der es manchmal eben auch einfach nicht besser weiß und nur über die Versuch-und-Irrtum-Strategie zum Ziel kommt. Eine rührende Kostprobe ihrer Großzügigkeit hat uns unsere Vierjährige jetzt übrigens auch bezüglich des Hausrauswurfs zugunsten der Enkel in spe gezeigt und uns dafür eine Gnadenfrist eingeräumt: „Es ist wahrscheinlich besser, wenn ich mit dem Kinderkriegen noch warte, bis ich in der Schule bin."