Familienurlaub am Chiemsee
Manchen Eltern macht es nichts aus, samt Kleinkindern bis ans andere Ende der Welt zu jetten, doch urbia-Autorin Maja Roedenbeck erkundet mit ihrer Familie vorerst lieber Deutschland. Rund um den Chiemsee bei München gibt’s Abenteuer genug zu erleben.
Wasser, Berge, Bauernhöfe
Für zwei Inseln ist der Chiemsee, der als drittgrößter See in Deutschland auch das bayerische Meer genannt wird, bekannt: Herrenchiemsee mit dem Märchenschloss König Ludwigs II und Frauenchiemsee mit der Benediktinerinnenabtei Frauenwörth. Dabei ist die spannendste Insel eigentlich die kleine Schwester mitten zwischen den beiden großen: die Krautinsel, deren Name noch an das Mittelalter erinnert, als die Nonnen dort ihren Gemüse- und Kräutergarten angelegt hatten. Heute ist die Krautinsel nichts als ein kleines, unbewohntes Eiland mit einer baumbestandenen Wiese und ein paar Hütten, auf dem im Sommer die Schafe und Kühe der Chiemseebauern weiden und Ausflügler ihr Picknick verzehren.
Eine unbewohnte Insel – welches Kind denkt da nicht sofort an Tom Sawyer und Huckleberry Finn oder die Fünf Freunde und an all die Abenteuer, die sich dort erleben lassen! Zumal es auf der Krautinsel auch noch spuken soll: Eine Legende erzählt vom Weinen eines Babys, das bei Sturm zu hören sei, seit es dort in Schande gezeugt wurde. Eine andere vom leisen Fluchen eines Fischers. Dass das Eiland nicht mit den Chiemseedampfern, sondern nur per Tret-, Ruder- oder Segelboot zu erreichen ist, macht es nur noch geheimnisvoller, allerdings auch zu einem Ausflugsziel, das sportlichen Familien vorbehalten bleibt. Wir anderen trösten uns damit, dass es auf der Krautinsel kaum einen Flecken Wiese geben soll, der nicht von Gänse- oder Schafmist bedeckt ist und auf dem man bedenkenlos eine Picknickdecke ausbreiten könnte. Und freuen uns, dass der Nachwuchs neugierig auf den Chiemsee geworden ist, den wir in diesem Jahr zum Ziel des Familienurlaubs auserkoren haben.
Camping oder Bauernhof? Touristisch oder gemütlich?
Zuerst müssen wir uns auf einen Ferienort einigen. Urlaub auf dem Bauernhof ist im Chiemgau genauso möglich wie Urlaub im quirligen Luft- und Kneippkurort Prien, der mit Gastronomie-, Kultur- und Freizeitangeboten auf Touristen zugeschnitten und gut per Bahn zu erreichen ist. Besucher mit ausgefalleneren Interessen steuern Übersee-Feldwies an, wegen des jährlichen Festivals „Chiemsee Reggae Summer“ und des einzigen FKK-Strands nahe dem wunderschön zwischen Feldern direkt am Seeufer gelegenen Campingplatz Rödlgries. Doch da es für uns der typische Familienurlaub in einer Ferienwohnung werden soll (bitte nicht zu touristisch überlaufen, bitte direkt am Wasser mit eintrittsfreier Badestelle und bitte mit Arzt und Apotheke für den Notfall), fällt die Wahl auf die Gemeinde Chieming am Ostufer des Sees mit ihren rund 4500 Einwohnern und über sieben Kilometern Strand.
Die goldgelbe katholische Kirche mit ihrem dicken Bauch und ihrem schlanken, spitzen Turm überragt das Dorf, dessen urbayerische Bauernhöfe, aber auch geschmackvoll der Umgebung angepassten modernen Gebäude sich weitläufig um den Krebsbach, den kleinen Pfeffersee und viele unendliche Wildblumenwiesen verteilen. Auf letzteren blüht jetzt im August so viel Scharfer Hahnenfuß, Klee und Schafgarbe, dass die Kinder die Blütenstängel unmöglich alle innerhalb der einen Woche, die wir hier verbringen, pflücken können, auch wenn sie auf der Wiese neben unserer Ferienwohnung in jeder freien Minute damit beschäftigt sind.
Die berüchtigten Chiemgauer Mückenschwärme, vor denen man uns gewarnt hatte und gegen die wir einen Monstervorrat Autan im Koffer haben, lassen sich nicht blicken. Dafür begegnen wir einem bärtigen Bauern, der mit Farbtopf, Pinsel und ganz viel Geduld die bayerntypischen Rankendekorationen rund um die Fenster seines Hofes auffrischt, einem Baumstamm, in den jemand ein Gesicht hineingeschnitzt hat, und einem Reh im Feld, das sich bei genauerem Hinsehen als absolut lebensechte Holzfigur entpuppt. Jeden Tag entdecken wir einen neuen Weg, der irgendwo in eine Wiese hinein- und irgendwo anders wieder hinausführt.
Wunderschöner Spielplatz und vieles mehr im Ortszentrum
Das „Gästehaus Ellmaier“, in dem wir residieren, bietet Ferienwohnungen von 25qm (2 Personen mit Baby) bis 75qm (4 Personen). Für die familienfreundlichen 45 bis 62 Euro pro Übernachtung in der Hauptsaison gibt es keinen Luxus und auch keine geschmackvolle Einrichtung, aber einen zweckmäßigen Grundriss, Waschmaschinen-Mitbenutzung, Babybetten, Hochstühle und in der größten Wohnung auch eine Spülmaschine. Allerdings liegt das „Gästehaus Ellmaier“ in der Max-Kurz-Straße ein ganzes Stück den Hügel hinauf, sodass wir den Rucksack morgens mit Bedacht packen müssen. Mal eben schnell zurückgehen, um die vergessenen Schwimmflügel zu holen, ist nicht drin. Die besten Adressen für Familien sind die rund ums Ortszentrum („Haus des Gastes“), allerdings nicht an der von Milchlastern und Treckern stark befahrenen Hauptstraße/Grabenstätter Straße. Je weiter man sich vom See entfernt, desto höher geht es den Hügel hinauf. Über Unterkünfte informiert das Online-Gastgeberverzeichnis unter www.chieming.de oder die Tourist-Information Chieming unter info@chieming.de und 08664-988647.
Im kleinen Ortszentrum von Chieming findet sich alles, was man als Familie braucht: mehrere einheimische Restaurants, aber auch Pizzerien, Eisdielen, ein Café mit Seeterrasse, ein Minigolfplatz und ein Radverleih. Supermarkt, Post, Andenkenläden, Bäckereien, Drogerie und Bankfilialen sind vorhanden. Vor allem aber gibt es einen wunderschönen Spielplatz gleich an der Uferpromenade. Während die Kids die Kletterspinne besteigen und auf den Autoreifen schaukeln, genießen wir Eltern von einer der zahlreichen Bänke aus den Ausblick auf den See. Von Chieming aus gibt es laut Kennern die schönsten Sonnenuntergänge über dem Wasser zu sehen! Das Kneippsche Wassertretbecken direkt neben dem Spielplatz muss natürlich auch jeden Tag ausprobiert werden, obwohl wenige Schritte weiter der Kiesstrand wartet (Badeschuhe einpacken!). Es gibt ein Strandbad, doch das offen zugängliche Ufer reicht uns auch. Schade, dass der Kiesstreifen wegen des Chiemseehochwassers in diesem Jahr so schmal ist, doch es sind trotz Hochsaison nie so viele Badegäste dort, dass wir uns beengt fühlen würden. Unseren Stammplatz richten wir neben einem Findling ein, auf dem ein poetischer Zeitgenosse namens „Wiggerl Bär“ seiner Melancholie freien Lauf gelassen und einen Spruch notiert hat: „Genieße den Augenblick! Viel zu schnell vergeht er, in der Minute, in der Stunde, im Tag – und ist gestern“. Bisschen kitschig, aber wahr.
Familienausflüge: Rund um den See und rauf auf den Berg
Sommerrodelbahn, Märchen-Erlebnispark und Seilbahnfahrten
Nachdem wir den Ort erkundet haben, stellt sich die Lust auf Abenteuer ein. Rund um den Chiemsee gibt es jede Menge Ausflugsziele für Familien mit Kindern: ob Sommerrodelbahn und Wasserspielgarten im Märchen-Erlebnispark Marquartstein oder Erlebnisführungen im Bergwald Frasdorf. Wir nutzen den Dampferanlegesteg in unserem Ferienort für eine große Rundfahrt zu beiden Inseln, planschen an einem Regentag im Erlebnisbad „Prienavera“ in Prien, mieten uns Fahrräder und zuckeln gemütlich den Chiemseeuferweg entlang, um uns später vom Chiemsee-Ringbus nach Hause kutschieren zu lassen. Nur die für Jungs und Mädchen unter 10 Jahren absolut ungeeignete „Kinderführung“ in der Höhlenburg Stein an der Traun sorgt für einige Alpträume: In den dreckigen, stockdunklen, niedrigen, glitschigen Höhlengängen und Treppengewölben haben wir keine angenehm kitzelige Gruselstimmung, sondern pure Panik erlebt.
Der Höhepunkt unserer Urlaubswoche am Chiemsee soll die Seilbahnfahrt auf die Kampenwand werden, diesen 1669m hohen, gezackten Berggipfel in den Chiemgauer Alpen, den wir jeden Tag vom Strand aus am Horizont bestaunen. Das Wetter richtet es so ein, dass diese von den Kindern heiß ersehnte Tour wirklich erst am allerletzten Urlaubstag stattfinden kann. Von Aschau aus schaukeln die blauen, gelben und roten Vier-Mann-Kabinen am Stahlseil den Berg hinauf. Die Kinder finden es großartig, doch für Mamas Nerven ist die viertelstündige Fahrt eine harte Prüfung – besonders, als die Seilbahn auf halber Strecke aus unbekannten Gründen für einige Minuten angehalten wird!
Doch oben angekommen ist die Strapaze sofort vergessen. Was für ein Ausblick – vorne der Chiemsee, von hier oben betrachtet nicht größer als eine Pfütze, im Rücken die bläulich im Nebel versinkenden Alpen! Man möchte stundenlang verweilen. Die Kinder kraxeln fürs Foto auf kleine Felsen und posieren am Fuß eines Holzkreuzes, das wir den nicht dabei gewesenen Freunden und Bekannten später bestimmt als Gipfelkreuz verkaufen können. Wir schauen den Gleitschirmfliegern beim Starten zu und lauschen dem Gebimmel der Kuhglocken. Doch irgendwann müssen wir uns trotz großer Proteste seitens der Kinder an den Abstieg machen, denn wir haben uns fest vorgenommen, ihn aus eigener Kraft zu schaffen – unsere Jungs sind mit ihren fast vier und sechs Jahren gut zu Fuß.
Ein strammer Marsch den Berg hinab
1,5 Stunden soll die kürzeste Strecke zur Talstation dauern, das müsste machbar sein. Doch trotz Wanderkarte und Beschilderung an jeder Wegkreuzung biegen wir am Ende irgendwo falsch ab. Landen auf einer breiten Bewirtschaftungsstraße, die den Abstieg laut Hinweis auf 2,5 Stunden verlängert und den Kindern grottenlangweilig ist. Zum Glück kommt ein Bauer mit seiner Kuhherde vorbei, die er mit einem bassigen „Dooo gemma lang! Dooo gemma lang!“ und einem Stock den Berg hinauf treibt. Fröhlich spielen die Jungs jetzt Bauer und Kuh und treiben sich gegenseitig den Berg hinab. Dann verlassen wir auch endlich die Straße und folgen einem Trampelpfad durch den Wald. Der ist zwar nicht leicht zu laufen, wir kraxeln wortwörtlich über Stock und Stein, doch die Jammerei hat sofort ein Ende. Staunend stapfen die Jungs, mit Wanderstöcken ausgestattet, dem Tal entgegen, erfrischen sich in einem Bergbach, zählen Zwerge und Trolle und verzehren zwischendurch Unmengen an Wiener Würstchen und Semmeln.
Hätten wir geahnt, dass wir am Ende vom Ausstieg aus der Gondel bis zum Parkplatz an der Talstation vier Stunden marschiert sein würden, hätten wir uns das mit den Kindern wahrscheinlich nicht zugetraut. Aber wir hätten ein großes Familienabenteuer verpasst, an das wir uns sicher noch lange erinnern werden. Den Muskelkater in den Waden haben wir jedenfalls am nächsten Tag als Andenken mit nach Hause genommen.