Was für Kinder jetzt wichtig ist

Depressionen bei Müttern und Vätern

Depressionen erschweren das Alltagsleben der Betroffenen extrem. Erkranken Eltern daran, kann das gravierende Auswirkungen auf die Kinder haben. Was tun, wenn, wie auch bei Burn-outs, jede Kraft für die Familie fehlt – und wie die Kinder vor Schaden schützen?

Autor: Kathrin Wittwer

Die häufigste psychische Störung bei Eltern: Depressionen

Vater Depression Familie
Foto: © fotolia.com/ Rafael Ben-Ari

Geschätzt bis zu drei Millionen Kinder in Deutschland leben mit psychisch kranken Eltern. „Das ist eine Hochrechnung, die alle Erkrankungen erfasst, auch Suchtkranke“, erklärt Johanna Kutzke, Diakonin des Diakonie-Hilfswerkes Hamburg und als Sozialpädagogin im dortigen Projekt „SeelenHalt“ tätig, das jährlich rund 100 Familien mit psychisch kranken Eltern betreut. „Den eindeutig größten Anteil machen aber Depressionen aus.“ In solchen sehr ernstzunehmenden, langen Phasen extremer Niedergeschlagenheit, Mut- und Teilnahmslosigkeit sowie tiefer Erschöpfung ist es Betroffenen kaum möglich, für sich selbst zu sorgen – und erst recht nicht für andere.

Übergänge und Überforderungen: Auslöser von Depressionen

„Typische Situationen, aus denen Depressionen entstehen können, sind Übergänge und Krisen“, erklärt Johanna Kutzke. Scheidungen gehören dazu, aber auch das Elternwerden an sich kann so eine Krise sein: „Neben Eltern mit langer Vorgeschichte gibt es viele, bei denen die neue Rolle solche Erkrankungen auslöst.“ Offiziell betrifft es öfter Mütter als Väter; ob dies wirklich so ist oder ob Männer nur seltener zum Arzt gehen, ist offen. Tatsache ist, dass schon Schwangerschaft und Geburt für Frauen Risiken einer Depression bergen, sei es durch Komplikationen oder weil die Mutterschaft sie überwältigt, Mehrfachbelastungen und die unzähligen  Herausforderungen des Familienalltags stellen dann oft die Weichen für Erkrankungen. Über zwei Millionen Mütter, konstatiert das Müttergenesungswerk, leiden unter Erschöpfungssyndromen und Burn-outs. Manche Ärzte setzen letzteren aufgrund ähnlicher Symptomatik sogar mit Depressionen gleich. Auf jeden Fall kann sich ein (unbehandelter) Burn-out zur depressiven Störung auswachsen.

Kranke Mütter fallen im Alltag stärker ins Gewicht

Die Konsequenzen für die Familie sind stets erheblich: „Bei mir führte vor zwei Jahren die Doppelbelastung Studium und Familie zu einem Burn-out. Von einem Tag auf den nächsten ging nichts mehr, außer Liegen“, erzählt Doreen*. Ihre Erschöpfung wurde unter anderem von depressiven Verstimmungen, Panikattacken und Angststörungen begleitet. „Meine drei Kinder und mein Mann mussten wochenlang alles allein machen, Haushalt, Arztbesuche, Einkauf, Elternabende, Unternehmungen.“ Tatsächlich wiegt ein Ausfall einer depressiven Mutter im Alltag schwerer, sagt Johanna Kutzke: „Erkrankt der Vater, drehen sich die Probleme meist ums Geld. Das ist schlimm, aber in der Regel wird das Leben nicht aus den gewohnten Abläufen gerissen. Wenn Mütter keine Energie haben, um aufzustehen, Frühstück zu machen, die Kinder in Kita oder Schule zu bringen, hingegen schon.“

Bedrückend für alle: kein Interesse, keine Hoffnung

Bei Depressionen fehlen aber nicht nur Kraft und Interesse: Es regieren zudem Hoffnungslosigkeit und Pessimismus. Was das für Kinder bedeutet, hat Julia*, heute Mutter zweier Teenager, erlebt: Sie blieb ab ihrem elften Lebensjahr als einzige von fünf Geschwistern mit einer depressiven Mutter im Elternhaus zurück. „Meine Mutter war den ganzen Tag in ihrem Zimmer. Sie hat keinen Alltag mehr begleitet, nie danach gefragt, wie mein Tag war, mir zwar Essen hingestellt, aber nicht mit mir zusammen gegessen. Nachts habe ich sie oft weinen gehört, aber wenn ich an ihre Tür klopfte, machte sie nicht auf. Das Leben war sehr einsam, es herrschte eine unerträgliche Friedhofsatmosphäre. In der Jugend vermittelt zu bekommen, die Welt sei schlecht, ist ungeheuer belastend.“ Ebenso wie Ängste, dass die Mutter sich was antut. Und Schuldgefühle, nichts dagegen machen zu können.

Den Kindern fehlt es an Zuwendung und Sicherheit

Bindung, Erziehung, Präsenz, real und emotional, Sicherheit und Vertrauen: All diese Aspekte eines gesunden Aufwachsens fehlen, wenn Elternteile, vor allem Mütter, so schwer erkranken. Nicht jeder Partner – sofern es überhaupt einen gibt – ist der Aufgabe gewachsen, das aufzufangen, den Kindern die nötige Fürsorge zukommen zu lassen. Doreen hatte Glück, ihr Mann hat sowohl sie unterstützt wie auch die zusätzliche neue Rolle als „Mutterersatz“ gut ausgefüllt, während sie in Klinik, mit verschiedenen Therapien und Antidepressiva Schritt für Schritt zurück ins Leben fand. Julia hingegen blieb einst allein: „Mein Vater war viel abwesend und auch wenn er da war, kam von ihm keine Hilfe. Er gehörte noch zu der Generation, die nicht über psychische Probleme sprach.“

Heikel: Überlebensstrategie Parentifizierung

Typischerweise versuchen ältere Kinder dann, den Ausfall zu kompensieren, indem sie die Elternrolle übernehmen, sich um sich selbst, den Haushalt und den Kranken kümmern. „Wir nennen das Parentifizierung“, erklärt Johanna Kutzke. „Ich habe versucht, meine Mutter aufzuheitern, mit ihr rauszugehen, sie ins Leben zurückzubringen“, sagt auch Julia. „Es war ein großer Druck, die Stimmung verbessern zu müssen, selbst keine Probleme zu machen, ein Sonnenscheinzwang.“ Eine gigantische Verantwortung, die jedes Kind heillos überfordert – meist ohne, dass man das merkt. „Solche Kinder fallen auf, indem sie nicht auffallen“, so Johanna Kutzke. „Sie sind sehr angenehm und verantwortungsvoll. Die Not dahinter bleibt verborgen.“

Zwingend notwendig: Kindern erklären, was los ist

Kinder psychisch kranker Eltern tragen aufgrund dieser Belastungen selbst ein erhöhtes Risiko, Störungen wie Depressionen zu entwickeln. Bei „SeelenHalt“ kümmert man sich deshalb vor allem um die betroffenen Kinder – eine Herzensangelegenheit auch für die Eltern, weiß Johanna Kutzke: „Die meisten Eltern, wenn sie zu uns in die Beratung kommen, wollen wissen, wie sie Schaden von ihren Kindern abwenden können.“

Dazu gehört die ganz essentielle Frage, wie man ihnen erklärt, was los ist – denn nur durch Begreifen haben sie überhaupt eine Chance, mit der Situation zurechtzukommen. „Für meine Kinder war es schwer zu verstehen, warum Mama von einer Sekunde auf die andere nicht mehr rausgeht, nicht mehr mitkommt, nicht mehr Auto fährt“, sagt Doreen. „Aber wir haben immer wieder erklärt, was die Krankheit macht und wie man damit umgeht. Mit der Zeit haben sie es akzeptiert und heute ermutigen sie mich, wenn ich einen Durchhänger habe. Das ist Gold wert!“

Die Kinder haben keine Verantwortung

Sozialpädagogin Kutzke empfiehlt, für eine altersgerechte Vermittlung Bücher zu nutzen. Literaturhinweise finden sich am Ende des Artikels. „Grundsätzlich raten wir, dass die Eltern nichts verschweigen, offen erklären, dass sie krank sind, dass ein Arzt helfen kann, dass es eine Perspektive gibt und dass sie klar sagen: Kinder, ihr habt nicht die Verantwortung, also Schuldgefühlen vorbeugen und die Kinder entlasten. Zudem ist es wichtig, immer wieder auf sie einzugehen, sie zu beobachten, zu fragen, wie sie sich fühlen, sie reden zu lassen. Und es ist sinnvoll, Krisenpläne zu entwickeln, also was können die Kinder im Notfall tun, wen anrufen. Sie sollten unbedingt die Erlaubnis haben, mit anderen darüber zu sprechen, wenn ihnen das hilft.“ Denn aus Scham tun viele Kinder dies nicht, isolieren sich immer mehr. Julia braucht Jahre, um den Mut aufzubringen, mit der Vertrauenslehrerin zu reden. Die vermittelte eine Psychologin, mit der Julia schließlich Lösungen für sich fand.

Angst vor Wegnahme der Kinder meist unbegründet

Auch viele Eltern scheuen sich, ihre Probleme offenzulegen: aus Angst davor, dass ihnen die Kinder genommen werden. „Es ist aber sehr selten, dass das Kindeswohl so gefährdet ist, dass ein solcher Schritt nötig ist“, beruhigt Johanna Kutzke. „Stattdessen besprechen wir konkret, wie es weitergehen kann, was im Alltag zu ändern ist, was Verwandte, Bekannte und Freunde leisten könnten oder ob ein Familienhelfer nötig ist.“ Neben Beratungsgesprächen und Unterstützung bei der Arztsuche oder auf Ämterwegen bietet „SeelenHalt“ von PsychologInnen und Sozialpädagogen betreute Gruppen für Eltern und Kinder.

Wo finden Eltern Hilfe?

Eine erste Orientierung über Hilfsangebote in der eigenen Region finden Eltern bei der „Familien-Selbsthilfe Psychiatrie“ des Bundesverbandes der Angehörigen psychisch Kranker (BApK). Nicht überall gibt es Projekte wie „SeelenHalt“, meist sind es Haus-, Kinder- oder Fachärzte, kommunale Beratungsstellen für Familien wie Sozialpsychiatrische Dienste oder auch  Jugendämter, an die man sich wenden kann.

Familie und Freunde werden gebraucht – müssen aber auch auf sich selbst achten

Doch dieser Weg kostet Kraft, an der es Depressiven eklatant mangelt. Ohne das Engagement von Angehörigen oder Freunden fällt es vielen schwer, die nötigen Schritte zu gehen oder die Zeit bis zum Beginn von Therapien zu überstehen. Nicht selten stoßen die Helfer, dauerhaft mit der Sorge um den Kranken belastet, dabei auch an ihre Grenzen. „Depressive nehmen einen großen Raum ein, ihre Krankheit prägt die Familie“, weiß Johanna Kutzke. „Angehörige sind oft selbst von Burn-outs betroffen.“ Auch das ist ein Grund, warum Familien nicht allein bleiben und sich nicht schämen sollten, rechtzeitig Unterstützung zu suchen.

Besser temporäre Ausfälle als permanente Krankheit

All das ist Depressiven trotz aller Teilnahmslosigkeit übrigens bewusst. „Oft fühlen sie sich schuldig“, weiß Johanna Kutzke und betont: „Sie müssen sich aber keine Vorwürfe machen und sollten nicht als schlechte Eltern bezeichnet werden. Es liegt in der Natur der Krankheit, dass sie sich nicht zusammenreißen und kümmern können. Wer anfängt, sich ausreichend behandeln zu lassen, hat den ersten wichtigen Schritt getan.“

Das sieht auch Julia so, die ihrer Mutter nur eines nachträgt: sich nie ernsthaft um Hilfe bemüht zu haben. Als sie selbst vor einiger Zeit ein Burn-out erlitt, hat sie mit Partner und Kindern alles offen besprochen, eine Reha gemacht, sich ausreichend Zeit zur Erholung genommen. Und ist aus all ihren Erfahrungen heraus überzeugt: „Es ist gut, wenn kranke Eltern für sich sorgen, selbst wenn das vorübergehende Engpässe schafft. Das ist aber immer noch besser, als wenn sie ständig auf dem Zahnfleisch gehen.“

* Namen geändert

Service

Links für Eltern

Literatur für Eltern, Familie, Freunde

  • Jeanette Bischkopf: So nah und doch so fern. Mit depressiv erkrankten Menschen leben. Balance. 2009. ISBN-13: 978-3867390392. 14,95 Euro.
  • Matthew und Ainsley Johnstone: Mit dem schwarzen Hund leben. Wie Angehörige und Freunde depressiven Menschen helfen können, ohne sich dabei selbst zu verlieren. Kunstmann. 2009. ISBN-13: 978-3888975943. 14,90 Euro. 

Zum Lesen mit Kindern

  • Erdmute von Mosch: Mamas Monster. Was ist nur mit Mama los?
    Empfohlen für 3-6jährige Kinder. Balance. 2011. ISBN-13: 978-3867390408.
    12,95 Euro.
  • Markus Sauermann, Uwe Heidschötter: Der Kleine und das Biest.
    Empfohlen ab 4 Jahren. Klett Kinderbuch. 2012. ISBN-13: 978-3941411494.
    13,90 Euro.
  • Claudia Gliemann, Nadia Faichney: Papas Seele hat Schnupfen. Empfohlen für 6-8jährige Kinder. Monterosa Verlag. 2014. ISBN-13: 978-3942640060. 19,80 Euro.

Broschüren des BApK für

Links für Kinder und Jugendliche

  • Internetpräsenz der Familien-Selbsthilfe des BApK speziell für Kinder und Jugendliche mit Broschüren-Download, Projektübersicht, Hilfsangeboten www.kipsy.net
  • Online-Beratung der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung e.V. (bke) für Jugendliche und junge Erwachsene (mit Möglichkeiten zur Einzelberatung, Sprechstunde, Chats)