Mutismus: Sprachlos vor Angst
Manche Kinder sind zu Hause lebhaft und gesprächig, doch bei Fremden verstummen und erstarren sie regelmäßig. Oft gelten sie dann einfach als extrem schüchtern. Doch hinter ihrer Sprachlosigkeit kann eine Angststörung stehen: Mutismus. Erfahren Sie, wie er diagnostiziert und behandelt werden kann.
Befremdliches Verhalten
Pauline schweigt. Spricht man sie an, reagiert sie nicht. Ob nun die Verkäuferin im Supermarkt ihr eine Scheibe Wurst geben will, oder ob andere Kinder sie zum Spielen einladen möchten: Pauline schaut weg, bleibt stumm: Sie wirkt ängstlich und wie erstarrt. Doch so verhält sie sich nicht immer: Zuhause dreht die Vierjährige richtig auf. Sie lacht und tobt mit ihren Brüdern, redet mitunter wie ein Wasserfall und liebt es, im Mittelpunkt zu stehen „Manchmal ist das schon etwas anstrengend, wie uns Pauline zutextet“, meint ihr Vater Hinnerk Briethner. „Umso befremdlicher ist ihr Verhalten außerhalb der Familie, auch im Kindergarten. Es hilft auch nichts, sie zu ermuntern. Sie verfällt einfach in hartnäckiges Schweigen.“
Lange Zeit glaubte die Familie, Pauline sei Fremden gegenüber einfach nur sehr schüchtern – so wie ihre Mutter es früher als Kind war. Auch beim Kinderarzt hieß es zunächst: „Das wächst sich aus.“ Ein anderer vermutete eine Form von Autismus hinter Paulines Schweigen. Erst vor kurzem, nach vielen Besuchen bei Ärzten und Psychologen, hat Familie Briethner erfahren, dass ihre Tochter unter Mutismus leidet.
Mutismus: Verstummen aus Angst
Bei Mutismus – der Begriff kommt vom lateinischen „mutus“ für „stumm“ – handelt es sich um eine angstbedingte Kommunikationsstörung, die vor allem im Kindesalter auftritt, bei Mädchen häufiger als bei Jungen. Menschen, die unter totalem Mutismus leiden, sprechen überhaupt nicht, obgleich ihre Sprachorgane völlig intakt sind. Häufiger ist der sogenannte selektive Mutismus. Die Betroffenen – wie zum Beispiel Pauline – sprechen im vertrauten Kreis der Familie oder mit engen Freunden, verstummen aber in Gegenwart anderer Menschen. Oft sind diese Kinder überaus ängstlich, launisch und klammern sich an ihre Eltern. In bestimmten sozialen Situationen, sind sie so verängstigt, dass ihnen als einziger Ausweg das Schweigen bleibt.
Nach Einschätzung der Mutismus Selbsthilfe Deutschland leiden in Deutschland 6.000 bis 10.000 Menschen an Mutismus – fast doppelt so viele wie an Autismus. Da die Krankheit oftmals nicht erkannt und mit Autismus oder extremer Schüchternheit verwechselt wird, ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen. „Schüchterne Kinder sind zwar oft sehr gehemmt, aber sie reagieren in der Regel, wenn sie angesprochen werden und kommunizieren auch von sich aus, wenn sie sich sicher fühlen. Ein mutistisches Kind hat dagegen keine Wahl. Seine Angst lässt es verstummen“, erläutert der Sprachtherapeut und Heilpädagoge Dr. Boris Hartmann, Lehrbeauftragter der Universität Fribourg in der Schweiz.
Mutismus: Ursachen, Diagnose, Therapie
Diagnose: Woran erkennt man Mutismus?
Mutismus ist ein anerkanntes Störungsbild mit gravierenden Konsequenzen für die Persönlichkeitsentwicklung, das Sozialverhalten und das Selbstbewusstsein. Denn sie betrifft die gesamte sprachliche, kognitive, soziale und emotionale Entwicklung eines Kindes. Spätestens im Jugendalter werden die Betroffenen zu Außenseitern, sie bekommen zunehmende Probleme in der Schule, häufig treten Depressionen und Selbstmordgedanken auf. „Je länger die Krankheit unentdeckt und unbehandelt bleibt, desto schwieriger wird es, die Kinder von ihren Ängsten zu befreien. Eine frühe Diagnose und Therapie – am besten bereits im Kindergartenalter – sind daher ungeheuer wichtig. Denn dann sind die Heilungschancen sehr gut“, betont Dr. Hartmann. Da die Störung bei vielen Ärzten noch nicht bekannt ist, empfiehlt der Mutismus-Experte Eltern, darauf zu achten, ob bei ihrem Kind folgende Auffälligkeiten auftreten – und bei Verdacht einen Arzt, Psychologen oder Sprachtherapeuten zu konsultieren:
- Verfällt Ihr Kind in bestimmten Situationen oder gegenüber bestimmten Personen immer in Schweigen, obgleich es ganz normal sprechen kann? (Dann spricht man vom selektiven Mutismus)
- Steht das Kind zuhause gerne im Mittelpunkt?
- Redet es zu Hause besonders viel, verstummt aber plötzlich, wenn Fremde hinzukommen?
- Hat ihr Kind Angst, sich körperlich zu erproben (zum Beispiel beim Klettern, Schwimmen oder Fahrradfahren)?
Ursachen: Hemmungen liegen oft in der Familie
Zwar sind die Ursachen von Mutismus noch nicht ganz eindeutig geklärt, doch Experten gehen davon aus, dass die Störung durch ausgeprägte soziale Ängste hervorgerufen wird. Neuere Untersuchungen belegen dies: Sie zeigen, dass bei Mutisten das Angstzentrum im Gehirn überreagiert. „Das ist ähnlich wie bei Menschen mit einer Sozialphobie“, erklärt Dr. Boris Hartmann. „Sie wissen zwar, dass ihnen andere nichts anhaben können, reagieren aber dennoch mit deutlichen Angstsymptomen. Bei Menschen mit selektivem Mutismus, werden solche Reaktionen eben durch Situationen ausgelöst, in denen sie mit nicht vertrauten Menschen außerhalb des engeren Familienkreises sprechen müssen.“
Ein stressreiches Umfeld kann ein Risikofaktor für Mutismus sein. Auffällig ist auch, dass rund 20 Prozent der betroffenen Kinder zweisprachig aufwachsen. Erziehungsfehler oder Traumata, zum Beispiel nach sexuellem Missbrauch, scheiden nach neuen Erkenntnissen als Ursachen aus. Dagegen scheint die Kommunikationsangst genetisch bedingt zu sein. „Bei 95 Prozent aller mutistischen Kinder, die ich behandelt habe, hat mindestens ein Elternteil angegeben, selbst sehr gehemmt zu sein oder zur Selbstisolation zu neigen, bei etwa 75 Prozent waren Vater oder Mutter depressiv oder litten an einer Angststörung.“
Therapie: In kleinen Schritten gegen die Angst
Mutismus muss kein Schicksal sein. Frühzeit behandelt ist die Angststörung in der Regel sehr gut heilbar. Eine wirkungsvolle Therapie sollte an verschiedenen Hebeln ansetzen und immer die individuelle Situation des Kindes berücksichtigen. Der wichtigste Ansatz ist meist eine Sprachtherapie. Ziel ist es, die Kinder behutsam in Situationen zu bringen, in denen sie sprechen müssen. Pauline, zum Beispiel, die gerade eine Therapie bei einer Logopädin macht, hat am Anfang nur einzelne Silben geflüstert. Nach einigen Wochen hat sie der Therapeutin bereits eine kurze – wenn auch leise – Antwort gegeben und sie dabei angesehen. Spricht das Kind schließlich frei in der Therapie, werden schließlich Alltagssituationen eingeübt.
Neben der Sprachtherapie ist oft auch eine Psychotherapie erforderlich, um gemeinsam die Ängste des Kindes anzugehen, sowie begleitende spiel-, musik- oder ergotherapeutische Maßnahmen. Hilfreich kann auch eine Verhaltenstherapie sein. Wie bei der Desensibilisierung bei einer Allergie, wird das Kind Schritt für Schritt in Situationen gebracht, die ihm Angst machen, damit es diese Ängste mit der Zeit bewältigen kann. Sprachtherapie und psychotherapeutische Behandlungen werden nach ärztlicher Verordnung von den Krankenkassen übernommen. Bei älteren Kindern oder Jugendlichen können auch Angst reduzierende Antidepressiva helfen.
Eltern: Nicht Sprachrohr, sondern Sprachtrainer
Besonders wichtig ist es, die Eltern in die Behandlung einzubeziehen; mitunter ist auch eine Familientherapie erforderlich. Auch im Interesse der Behandlung des Kindes, ist eine enge Zusammenarbeit zwischen Therapeuten und Eltern dringend nötig. „Viele Mütter und Väter neigen dazu, ihr Kind zu schützen und außerhalb der Familie für es zu sprechen. Doch so verharren die Kinder in ihrer Sprachlosigkeit“, erläutert Mutismus-Experte Dr. Hartmann. „Eltern sollten nicht das Sprachrohr, sie müssen Sprachtrainer ihrer Kinder sein – und das müssen sie auch erst lernen.“ Das bedeutet: Rausgehen aus der Schonhandlung – wenn das Kind ein Eis möchte, muss es selbst eines bestellen. Auch gegenüber den Geschwistern sollte es nicht bevorzugt werden: Es sollte ebenso wie die anderen im Haushalt mithelfen und auch nicht mehr Aufmerksamkeit bekommen. Also keine Sonderbehandlung, aber auch kein übermäßiger Druck zum Sprechen, schließlich ist es für das Kind sehr schwierig, seine Ängste und das jahrelange Schweigen zu überwinden. Wenn es ein paar Worte spricht, verdient das natürlich ein Lob, aber auch dabei sollten Eltern nicht zu enthusiastisch werden. Schließlich soll das Sprechen irgendwann zur Normalität werden – bis dahin braucht es einfach eine Menge Geduld.
Service
Zum Weiterlesen
- Reiner Bahr: Wenn Kinder schweigen – Redehemmungen verstehen und behandeln. Ein Praxisbuch. Patmos Verlag 2012, 14,90 Euro.
- Ornella Garbani Ballnik: Unser Kind spricht nicht: Ratgeber für Eltern schweigender Kinder. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht 2012, 19,95 Euro.
- Boris Hartmann und Michael Lange: Mutismus im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter. Schulz-Kirchner Verlag 2013, 8,99 Euro
- Nitza Katz-Bernstein: Selektiver Mutismus bei Kindern: Erscheinungsbilder, Diagnostik, Therapie. Rheinhardt Verlag 2011, 24,90 Euro
- Mutismus.de – Fachzeitschrift für Mutismus-Therapie, Mutismus-Forschung und Selbsthilfe. Erhältlich über www.mutismus-abmedia-online.de
Weiterführende Links:
- www.mutismus.de – Website der Mutismus Selbsthilfe in Deutschland e.V. mit umfangreichen Informations- und Beratungsangebot
- www.boris-hartmann.de – Website des Kölner Sprachtherapeuten und Mutismus-Experten Dr. Boris Hartmann mit umfassen Informationen zum Thema.
- www.mutismus.net – Beratung für Eltern selektiv mustistischer Kinder