Warum Kinder fremdeln
Fremdeln - so nennt man es, wenn Kinder gelernt haben, zwischen vertrauten und weniger vertrauten Menschen zu unterscheiden. Was geht in dieser Zeit in einem Kind vor und wie können wir Erwachsenen angemessen darauf reagieren?
Fremdelphase beim Baby: Schutz suchen bei Mama oder Papa
Begeistert dreht und wendet Louisa (9 Monate) eine Plastikbanane aus dem Kaufladen ihrer dreijährigen Schwester. Von allen Seiten betrachtet sie den Gegenstand, hebt ihn hoch, beißt hinein und zeigt ihn immer wieder stolz ihrer Mutter. Doch schlagartig ändert sich das vergnügte Spiel: Im Eiltempo krabbelt sie zu Mama und signalisiert ihr jammernd "Nimm mich hoch – sofort". Auf dem Arm ihrer Mutter kuschelt sie ihr Köpfchen an deren Brust und krallt sich mit Armen und Beinen an dem schützenden Körper fest.
Was hat diesen enormen Stimmungsumschwung ausgelöst? Louisas Onkel ist durch die Terrassentür ins Zimmer gekommen und wollte seine Nichte begrüßen. Die Kleine hingegen will nichts von ihm wissen, obwohl sie sich sonst sogar gerne von ihm auf den Arm nehmen ließ. "Sie fremdelt", erklärt die Mutter das Verhalten des Babys. "Ist das normal?", fragt ihr Bruder. "Ja, das ist ganz normal. Das hat nichts damit zu tun, dass sie dich nicht leiden könnte", kann die Mutter beruhigen. Und tatsächlich, nach einiger Zeit auf Distanz sucht die Kleine neugierig den Blick des Onkels und lächelt ihn an. Im Verlauf des Nachmittags spielen die beiden – sehr zur Freude von Louisa und zur Entspannung der Mama – "Nachkrabbeln", das Kuckkuck-Spiel und schauen sich Bilderbücher an.
Das Kind lernt zu unterscheiden
Das Fremdeln, früher auch als "Acht-Monats-Angst" bezeichnet, ist nicht nur normal, sondern ein ganz wichtiger Entwicklungsschritt des Kindes, den die Eltern vorbehaltlos unterstützen sollten, betont der Autor Dr. Jan-Uwe Rogge und erklärt: "Zwischen dem fünften und siebten Lebensmonat des Kindes passiert etwas ganz Entscheidendes: Seine Augen werden besser, es wird ein visueller Typ und lernt zwischen vertrauten und nicht vertrauten Personen zu unterscheiden." Während sich das Baby zuvor bei Kummer auch noch von anderen Personen trösten ließ, fordert es jetzt die Nähe und Sicherheit von Mama oder Papa (oder anderen Bezugspersonen) ein.
Manchmal reicht – wie bei Louisa – schon der Anblick einer fremden Person, um eine heftige emotionale Reaktion auszulösen. Dabei spiele es keine Rolle, ob diese Person ein Onkel, die Oma oder die nette Nachbarin ist. "Das Kind hat gelernt, zwischen vertrauten und nicht vertrauten Personen zu unterscheiden, nicht aber zwischen verwandten und nicht verwandten Personen", unterstreicht der Familien- und Kommunikationsberater. Gerade wenn das Kind gegenüber Verwandten oder lieben Freunden Fremdelreaktionen zeigt, sind die Eltern oft verunsichert. Manche drängen ihre Kleinen sogar dazu, dem Onkel "das schöne Händchen zu geben" oder sich von der Oma küssen zu lassen, weil sie die für sie unangenehme Situation nicht aushalten. "Eltern, die so etwas tun, konterkarieren einen wichtigen Entwicklungsschritt", sagt Jan-Uwe Rogge und erklärt: "Die zögerlichen Reaktionen des Kindes auf Fremde sind ein Schutzmechanismus."
Während manche Kinder eine fremde Person nur erschrocken anstarren, versteifen sich andere, schreien laut und krallen sich an den Eltern fest oder verstecken sich hinter ihnen. "Jeder ist ein anderer Angsttyp. Ein introvertiertes Kind fremdelt stärker als ein extrovertiertes, neugieriges Kind, das mit neuen Situationen offener umgeht", erläutert Rogge und ergänzt: "Ein introvertiertes Kind wird wahrscheinlich auch als Erwachsener introvertiert sein und niemals ein Partylöwe werden." Das Kind sollte in jedem Fall in seiner Angst ernst und angenommen werden; die Eltern sollten eine Koalition mit ihrem Kind eingehen, damit es sich zur eigenständigen Person entwickeln kann.
Im hohen Maß gefährdet seien Kinder, die keinerlei Fremdelreaktionen zeigen, die distanzlos auf jeden zugehen. "Distanzlosigkeit ist eine extreme Form verdeckter Ängste. Distanzlose Kinder laufen Gefahr, später in der Pubertät seelisch und körperlich missbraucht zu werden", warnt Jan-Uwe Rogge.
Die Bindung zu Mutter und Vater festigt sich
Wie stark ein Kind fremdelt, hänge zum einen mit dem Temperament des Kindes zusammen, zum anderen sei es aber auch kontextabhängig, erklärt Professor Gottfried Spangler, vom Lehrstuhl für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Ein Kind reagiere anders, wenn es zu Hause spiele und ein Fremder käme zu Besuch, als wenn es zusammen mit seiner Mutter in einer fremden Umgebung auf Unbekannte träfe. Eine wichtige Rolle spiele hierbei auch die Reaktion der Mutter. "Wenn die Mutter den Fremden begrüßt und selbst entspannt ist, wird das Kind auch entspannter sein", erläutert Professor Gottfried Spangler und verweist auf einen weiteren wichtigen Aspekt in der Entwicklung des Kindes. In der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres lernt das Kind zwischen vertrauten und nicht vertrauten Personen zu unterscheiden, damit festigt sich auch die Bindung zu seinen "primären Bezugspersonen", in der Regel zu Mama und Papa. "Das Kind nimmt jetzt aktiv Bezug zur vertrauten Person auf", erklärt Professor Spangler und gibt ein Beispiel: "Das Kind krabbelt in einen anderen Raum, um dort neue Dinge zu entdecken. Nach kurzer Zeit wird es wieder zurück zur Mutter kommen. Es will sich rückversichern, ob die vertraute Bezugsperson noch da ist, ob alles in Ordnung ist. Dann kann es wieder beruhigt auf Erkundungsreise gehen." Wenn ein Kind in diesem Alter in eine Situation kommt, die es nicht kennt, dann ist die Reaktion der Bezugsperson entscheidend. "Jeder kennt folgende Situation: Ein Kind fällt hin. Zunächst passiert nichts. Erst als das Kind die erschrockene Mutter sieht, fängt es an zu weinen", veranschaulicht der Entwicklungspsychologe die vom Kind erlernte "soziale Bezugnahme". Spielt ein Kind nun vergnügt auf dem Spielplatz, hält es möglicherweise beim Anblick einer fremden Person nur kurz inne, wenn die Mutter mit ihrem Verhalten signalisiert: "Es besteht kein Grund zur Sorge."
Hört das Fremdeln wieder auf?
Wann hört das Fremdeln auf? "Eigentlich hört es nie ganz auf. Es lässt etwas nach und ein dreijähriges Kind wird nicht mehr so stark fremdeln wie ein einjähriges Kind", unterstreicht Professor Spangler. Auch Erwachsene hätten Fremden gegenüber Ängste oder zeigten zumindest eine gewisse Zurückhaltung. "Wenn man nachts alleine auf der Straße einem Unbekannten begegnet, dann ist es ganz normal, dass man Angst hat und vorsichtig ist", so Spangler.
Wie Dr. Gerd Awater, niedergelassener Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin in Odenthal, erklärt, sollten heftige Fremdelreaktionen vor dem dritten Geburtstag des Kindes weg sein: "Das Kind müsste inzwischen erkannt haben, dass nicht jeder Neue und nicht jede neue Situation eine Gefahr darstellt." Wie stark ein Kind fremdelt, hänge seiner Meinung nach sicherlich auch damit zusammen, was ihm zu Hause vorgelebt wird. So werde eine ängstliche Mutter eher ängstliche Kinder haben, als eine Mutter, die burschikos ist. Eindeutige Belege, dass Kinder kontaktfreudiger Mütter weniger fremdeln, gibt es laut Dr. Jan-Uwe Rogge jedoch nicht. Hingegen sei aber der Rückschluss, dass distanzlose Mütter auch distanzlose Kinder hätten, zu ziehen.
So helfen Eltern ihrem fremdelnden Kind
Wie können Eltern ihren fremdelnden Sprösslingen helfen? "Prinzipiell sollte man das Kind mit seiner Angst ernst nehmen", betont Dr. Awater und rät Eltern zu einem "behutsamen Heranführen an Fremdes". Natürlich sei ein Kaffeetrinken bei der Freundin mit ängstlichem Kind auf dem Schoss nicht besonders attraktiv. Vor allem dann nicht, wenn die anderen Kinder einvernehmlich spielen. Würde die Mutter ihr Kind jetzt auf den Boden zu den Spielgefährten setzen, würde sie ihm jedoch etwas abverlangen, was es in dieser Situation noch nicht kann. Ebenso wenig sei dem Kind in dieser Entwicklungsphase aber mit "mitleidenden" Eltern geholfen. Auch wenn die Reaktionen in der Fremdelphase sehr extrem sein können, so sollten sich die Eltern immer wieder vor Augen halten, dass ihr Kind nicht leidet, sondern einen ganz normalen Entwicklungsprozess durchläuft.
Während Eltern die Ängstlichkeit ihrer Kleinen gegenüber Fremden verstehen können, sind sie erstaunt, wenn sie ähnliche Reaktionen einem Elternteil gegenüber zeigen. "Als wir gebaut haben, hatte mein Mann wenig Zeit für unseren Sohn. Wenn er da war, wollte sich unser Sohn eine Zeit lang nicht von ihm ins Bett bringen lassen", berichtet eine Mutter von drei Kindern und fährt fort: "Wir haben das ganz bewusst aufgearbeitet. Mein Mann hat ihn, wenn es nur ging, mitgenommen zur Baustelle, in den Baumarkt. Nach kurzer Zeit war alles wieder wie vorher." Auch das sei ein ganz normales Verhalten, erklärt Dr. Awater: "Die Kinder suchen sich immer mal wieder ihren Liebling, aber das legt sich auch wieder." Professor Gottfried Spangler betont: "Wenn Kinder mal ihre Mutter, mal ihren Vater favorisieren, hat das nichts mit Fremdeln zu tun, sondern mit einer hierarchisch angelegten Beziehungsstruktur."
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