Gemeinsame Klassen in der Grundschule
Jahrgangskombinierte Klassen, Flexible Schuleingangsphase, Integrativer Schulanfang - jedes Bundesland erfindet seine Bezeichnung für das gemeinsame Lernen der Erst- und Zweitklässler. Was es mit dem neuen Grundschulkonzept auf sich hat, erfahren Sie hier.
Jahrgangsübergreifendes Lernen in den ersten zwei Schuljahren
„Was haltet Ihr vom jahrgangsübergreifenden Lernen?“, fragt eine Hamburger Mutter in einem Online-Forum. Diese Frage löst bei Nicht-Hanseaten unter den Usern zunächst Verwirrung aus. „Meinst Du den integrativen Schulanfang?“, fragt eine Mutter aus Bremen. Und auch sie wird nicht auf Anhieb verstanden. Schulpolitik ist Ländersache, und damit wir Eltern das auch ja nicht vergessen, besteht fast jedes teilnehmende Bundesland auf einer eigenen Bezeichnung für das gemeinsame Lernen im ersten und zweiten Grundschuljahr: „Schulanfang auf neuen Wegen“, „Jahrgangskombinierte Klassen“, „Flexible Schuleingangsphase“, „Integrativer Schulanfang“ - so eine kleine Auswahl der Bezeichnungen. Was da genau auf ihre zukünftigen I-Dötzchen zukommt, wissen viele Eltern trotzdem nicht. urbia stellt die Idee und die konkrete Umsetzung vor.
Die Idee: Gemeinsames Lernen bringt alle voran
Als meine Tochter gerade ins zweite Schuljahr kam, wurde an ihrer Grundschule die Zusammenlegung der ersten zwei Schuljahre eingeführt Selbst gerade dem I-Dötzchen-Status entwachsen, sollte sie also nun wieder mit Erstklässlern zusammen unterrichtet werden. Dazu musste ihre bisherige Klasse geteilt werden. Beiden Hälften wurde jeweils eine halbe erste Klasse zugeteilt. Nicht nur waren jetzt viele Klassenkameraden plötzlich weg, sondern meine Siebenjährige verlor auch ihre Klassenlehrerin, zu der sie so gut Vertrauen gefasst hatte. Die unterrichtete nun die andere Klassenhälfte plus den neuen Erstklässlern. Wir waren von all dem wenig enthusiasmiert, um es mal so auszudrücken. Hinzu kamen Bedenken, ob die Erstklässler, die nur wenig lesen, schreiben und rechnen konnten, wirklich eine Bereicherung für die Zweitklässler sein würden. Dass die Kleinen umgekehrt von den Älteren profitieren könnten, daran zweifelten wir weniger.
Die Ideen der reformieren Schuleingangsphase, die inzwischen in elf Bundesländern an vielen Grundschulen umgesetzt wird, wurden uns auf einem Elternabend erläutert: Jüngere Schüler können von älteren, und ältere Schüler von jüngeren profitieren. Denn die Jüngeren verstehen Dinge, die andere Kinder ihnen erklären, oft leichter als die Erläuterungen Erwachsener. Und die älteren Kinder speichern den Stoff besonders gut, wenn sie ihn in eigenen Worten nochmals erklären müssen (sog. Spiral-Curriculum = Lernen vollzieht sich in einer Kreisbewegung aus Wiederholung und Neuem). Die Jüngeren lernen zudem Arbeitsmethoden (zum Beispiel „Schleichdiktate“) und Klassenrituale (wie die Morgenkonferenz, Aufgabenverteilung usw.) von den älteren. Diese sind keine Konkurrenten, sondern Vorbilder. Viele Themen (z. B. Sachkunde) werden aber auch gemeinsam erarbeitet. Die Unterschiede in Alter, Wissen und Voraussetzungen sollen dabei bereichernd wirken. Die Kinder lernen das Helfen, und das Sich-helfen-Lassen. Beide Altersgruppen trainieren aneinander ihr Sozialverhalten, eingefahrene Rollen innerhalb der Klasse werden gelockert, weil jedes Jahr Mitschüler weiter gehen und durch neue ersetzt werden.
Kein Sitzenbleiben mehr
Erste und zweite Klasse werden weitgehend als Einheit verstanden, die unterschiedlich lang dauern kann: Je nach Leistung und Begabung eines Kindes kann die Eingangsstufe schon in einem Jahr durchlaufen werden, so dass das Kind nach seinem ersten Schuljahr direkt ins dritte Schuljahr aufsteigt. Und ein Schüler, der mehr Zeit als die üblichen zwei Jahre braucht, bleibt nicht mehr „sitzen“, sondern kann einfach ein Jahr länger in dieser Stufe „verweilen“, wie es heißt. So dass er insgesamt drei Jahre dort verbringt. Das Kind gilt nicht als „Wiederholer“ und bleibt in seinem Klassenverband, der zumindest in Teilen fortbesteht. Auch innerhalb der regulären zwei Jahre kann ein Kind in bestimmten Bereichen seinem eigenen Lerntempo folgen, so dass Schüler auch desselben Jahrgangs in manchen Arbeitsheften unterschiedlich weit sind und an ihren Leistungsstand angepasste Aufgaben erhalten.
Das jahrgangsübergreifende Lernen (JüL), das manchmal auch die 3. Klasse umfasst, oder bei dem gelegentlich auch 3. und 4. Schuljahr zusammengelegt werden, gibt es bisher an Grundschulen in Baden-Württemberg, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein, Thüringen und Sachsen-Anhalt mit leichten Unterschieden und nicht an allen Grundschulen. Auch andere Bundesländer haben Ideen der Reform zumindest teilweise umgesetzt: Auf die Arbeit in jahrgangsgemischten Lerngruppen legen Bayern und Mecklenburg-Vorpommern einen Schwerpunkt, in „Meck-Pom“ dient dies vor allem zum Erhalt wohnortnaher Schulstandorte, weil diese zahlenmäßig kein komplettes erstes und zweites Schuljahr mehr zusammen bekommen müssen. Eine variable Verweildauer scheint in beiden Ländern nicht vorgesehen. Sachsen spricht zwar ebenfalls nicht von einer variablen Dauer, ermöglicht es Kindern aber de facto, ein Jahr länger in der Klassenstufe 1 zu bleiben.
Wie sieht der „neue Unterricht“ aus?
Wie aber sieht der Alltag in einer jahrgangsgemischten Klasse aus? Er besteht aus einigen typischen Elementen, die sich auch im Unterricht unserer Tochter wiederfanden: Es gab “Werkstätten“, die aus verschiedenen Stationen zu einem bestimmten Thema bestehen. Jede Station wird von je einem Kind betreut und von den anderen Kindern durchlaufen. Sie beinhaltet eine kleine Aufgabe (Wörter zu einem Wortfeld finden, ein kleines Bild malen, eine Sachaufgabe lösen). Es gab in der Klasse meiner Tochter auch Lernpässe, vor allem für das gelungene Lernen des Einmaleins. Generell galt, dass bei Problemen zuerst Tischnachbarn befragt wurden, und erst dann die Lehrerin, die Lehrerin hat Beraterfunktion. Hausaufgaben wurden als Wochenarbeit aufgegeben, damit die Kinder lernten, sich die Aufgaben selbst einzuteilen. Jeden Montag gab es eine Morgenrunde, wo die Kinder von ihren Erlebnissen des Wochenendes berichteten und dazu auch Gegenstände zeigen konnten (gefundenes Schneckenhaus, Prospekt zu einem Planetariumsbesuch etc.). Die älteren Kinder bekamen ein jüngeres „Patenkind“, das neben ihnen saß und das sie unterstützen sollten. Manche dieser Patenschaften scheiterten früh an allzu unterschiedlichen Temperamenten und auch an der Ungeduld der älteren Kinder mit den „I-Dötzchen“.
Wo es um konkrete Fähigkeiten wie Lesen, Schreiben oder Rechnen ging, hatten erstes und zweites Schuljahr natürlich unterschiedliche Bücher und Lernmaterialien. Und hier hatte die Klasse auch oft Unterricht in zwei Gruppen: Während zum Beispiel die Erstklässler-Gruppe mit der Lehrerin vorn das Lesen übte, lösten die Zweitklässler in einem abgeteilten Bereich des Klassenzimmers still Schreibaufgaben, was nach Aussage der Lehrerin erstaunlich gut klappte.
Hat gemeinsames Lernen nur Vorteile?
Natürlich fehlt es auch nicht an Kritik zur Reform der Eingangsstufe, bei deren Einführung auf der jeweiligen Grundschule Eltern kein Mitspracherecht haben - die aber immerhin vom Bundeselternrat 2006 in einer Resolution begrüßt wurde. So ist die Frage, ob Kindern mit dem Begriff „längere Verweildauer“ wirklich ein Gefallen getan wird. Drei Jahre Eingangsstufe geben unter dem Strich fünf Jahre Grundschulzeit – der Unterschied zum „Sitzenbleiben“ verschwimmt, zumal das zusätzliche Jahr nicht auf die Gesamt-Schulpflichtzeit anerkannt wird. Kritiker sehen auch die Gefahr, dass Lehrer oder Lehrerin den Überblick über den tatsächlichen Lernstand der Schüler verlieren, da das Lernen in Kleingruppen im Vordergrund steht. Oft zeige sich – so auch die Erfahrung einiger Lehrer – erst in der 3. Klasse, welche Defizite die Kinder aus der gemeinsamen Eingangsstufe mitgebracht hätten.
Kritik kommt auch aus Schulen in sozialen Brennpunkten. Wo die Unterschiede schon zwischen den Schülern eines Jahrgangs erheblich sind, vergrößern sie sich bei unterschiedlichen Altersgruppen erst recht. Und so passiert es nach Erfahrung mancher Lehrer denn doch, dass die Zweitklässler von den Defiziten der Erstklässler gebremst werden. Fachleute kritisieren auch, dass die Umsetzung der Reform bisher nur wenig überprüft werde. Hans Anand Pant, Leiter des Instituts für Schulqualität der Länder Berlin und Brandenburg, kritisiert, dass es kaum Studien gibt, die den Erfolg von JüL- und Regelklassen im Normalbetrieb (also außerhalb von Modellversuchen) vergleichen. Er halte dies „für dringend erforderlich". Nur Bayern untersucht seit diesem Schuljahr (2008/2009) im Rahmen einer Studie der Uni Augsburg, wie sich die Leistungen in jahrgangsgemischten und in herkömmlichen Klassen unterscheiden – das Ergebnis steht noch aus.
Eltern können verfolgen, ob Lernziele erreicht werden
Weil auf dem erwähnten Elternabend an der Grundschule unserer Tochter längst nicht alle von den Vorteilen des gemeinsamen Lernens zu überzeugen waren, kopierte die Klassenlehrerin die Lernziele für beide Schuljahre für alle Familien. So konnten wir mitverfolgen, ob unsere Kinder „up to date“ waren und am Ende des Schuljahres die vorgeschriebenen Lerninhalte erarbeitet hatten. Das beruhigte - vor allem, als sich zeigte, dass dies der Fall war. Mein ganz persönliches Fazit am Ende der gemeinsamen Eingangsstufe: Der zweimalige Lehrerinnen-Wechsel und der „Rücktausch“ der alten Klassenkameraden (im dritten Schuljahr) war seelisch für meine Tochter eine Herausforderung, die sie aber besser als erwartet meisterte. Ob ihre sozialen Fähigkeiten größer sind als sie es ohne JüL gewesen wären, ist schwer zu beurteilen. Auch ist es schwierig zu messen, ob sie besser und nachhaltiger gelernt hat. Sie selbst sagt, dass es „ganz gut“ geklappt habe, dass aber „die Kleinen schon manchmal genervt“ hätten. Das Einzige, was wir Eltern ganz sicher sagen können: Geschadet hat das gemeinsame Lernen ganz offensichtlich nicht.