Versetzung gefährdet?
Jedes Jahr um Ostern werden die „Blauen Briefe“ verschickt. Haben Sie auch einen bekommen, weil die Versetzung Ihres Kindes gefährdet ist? Noch können Sie etwas unternehmen. Welche Möglichkeiten es gibt, das Klassenziel doch noch zu erreichen, lesen Sie hier.
Sinn und Unsinn des Sitzenbleibens
Sie haben es wahrscheinlich schon geahnt. Immer nur Computerspiele, immer nur Facebook und Fußball – das kann auf Dauer nicht gut gehen. Die Fünf in Englisch im Halbjahrszeugnis hat Sie deshalb gar nicht so sehr überrascht. Aber dass aus der Vier in Mathe jetzt auch noch eine Fünf geworden ist, das schockt Sie nun doch etwas. Was nun? Sie können sich Ihren Sohn vorknöpfen, Ihre Tochter anschreien und mit Hausarrest oder Taschengeldentzug bestrafen. Besser wäre eine sachliche Ursachenforschung, denn schlechte Noten fallen nicht vom Himmel. Also hilft nur eines: Bewahren Sie einen kühlen Kopf und erstellen Sie gemeinsam einen Krisenplan. Vielleicht besteht ja auch die Möglichkeit, über einen Notenausgleich doch noch weiterzukommen.
Sitzen bleibt man nur in Deutschland
Nach einer Studie der Bertelsmann Stiftung starten jedes Jahr etwa 250.000 Schüler in Deutschland mit einer Ehrenrunde ins neue Schuljahr. In unseren Nachbarländern ist das zwangsweise Wiederholen eines Schuljahres wegen schlechter Noten unbekannt. Auch hierzulande ist der Nutzen umstritten. Wiederholungsjahre kosten die Bundesländer jährlich rund 930 Millionen Euro, ohne dass sich die Leistungen der „Sitzenbleiber“ nennenswert verbessern würden – so die Erkenntnis der Bertelsmann Bildungsforscher. Nicht nur volkswirtschaftlich, auch pädagogisch erscheint das Sitzenbleiben vielen Experten als sinnlose Strafe, die die Schüler beschämt und demütigt. Selbst der Bayerische Philologenverband fordert, „Ehrenrunden“ in ihrer bisherigen Form abzuschaffen. „Statt einfach nur ein Schuljahr zu wiederholen, bringt es mehr, wenn die Schüler in einem Intensivierungsjahr Wissenslücken gezielt angehen“, so der Vorsitzende Max Schmidt. Aus dem gleichen Grund raten die meisten Experten auch vom freiwilligen Zurücktreten in eine niedrigere Jahrgangsstufe ab.
„Ehrenrunde“, Notenausgleich oder Nachprüfung?
Doch bis das Sitzenbleiben abgeschafft ist, müssen sich noch einige Schülerjahrgänge und ihre Eltern mit dem Thema auseinandersetzen. Versetzung gefährdet – was bedeutet das eigentlich genau? Wer wird versetzt? Wer darf nicht über Los gehen? Und wieso nicht? Die Gymnasiallehrerin Barbara Endres erklärt die Sicht der Schulen: „Ein Schüler wird versetzt, wenn man davon ausgehen kann, dass er auch im nächsthöheren Schuljahrgang erfolgreich am Unterricht teilnehmen wird. Dabei werden nicht nur seine Leistungen und sein Lernverhalten berücksichtigt, sondern auch äußere Umstände wie ein Lehrerwechsel, eine längere Krankheit oder persönliche Probleme des Schülers oder seiner Familie. Zeigt der Schüler grundsätzlich eine positive Entwicklung, geben Lehrer in Zweifelsfällen meist die bessere Note. Auch ein Versetzen auf Probe ist in solchen Fällen möglich.“
Das Schuljahr muss wiederholen, wer in zwei oder mehr Fächern die Note „mangelhaft“ hat oder mindestens ein Mal „ungenügend“. Eine Fünf im Zeugnis kann meist nur ausgeglichen werden, wenn in einem oder mehreren Unterrichtsfächern mit wenigstens gleichem Stundenanteil ein „gut“ erzielt wurde. Für den Ausgleich einer Sechs muss es dann mindestens eine „Eins“ in einem gleichwertigen Fach sein. Ein Notenausgleich ist in der Regel nur ein Mal möglich. Mehr als zwei Fünfer oder eine Fünf und eine Sechs können nicht ausgeglichen werden. Allerdings variieren die rechtlichen Bestimmungen zur Versetzung und zum Notenausgleich je nach Schulform und Bundesland; zudem gibt es viele Kann-Bestimmungen, die die Entscheidung letztlich in die Hände des jeweiligen Fachlehrers legen.
Ob ein Notenausgleich in Ihrem Fall infrage kommt, besprechen Sie am besten mit den Lehrern Ihres Kindes. „Wenn ein Notenausgleich möglich ist, sollten Sie strategisch vorgehen“, empfiehlt Studienrätin Endres. „Wenn es beispielsweise an der Fünf in Englisch nichts mehr zu rütteln gibt, aber das Kind im Ausgleichsfach Deutsch gerade auf 2,7 steht, ist es angesichts der knappen Zeit bis zum Schuljahrsende sinnvoller, intensiv auf die Zwei in Deutsch hinzuarbeiten.“
In vielen Bundesländern besteht auch die Möglichkeit, durch eine Nachprüfung am Ende der Sommerferien das Sitzenbleiben zu vermeiden. Die Bestimmungen hierzu sind in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich geregelt; auf jeden Fall ist die Zulassung zur Nachprüfung Ermessenssache der Zeugniskonferenz. Meist wird sie nur erteilt, wenn das Kind in nicht mehr als zwei Fächern die Note „mangelhaft“ hat. Damit es doch noch versetzt wird, muss die Nachprüfung mit mindestens „ausreichend“ bestanden werden. Die Prüfung kann in einem oder zwei Fächern, schriftlich und/oder mündlich durchgeführt werden. Auch diese Möglichkeit sollten Sie mit den Lehrkräften erörtern.
Wissenslücken oder Überforderung? Sprechen Sie mit Ihrem Kind
Vor dem wichtigen Gespräch mit den Lehrern sollten jedoch erst einmal die Betroffenen zu Wort kommen. Sprechen Sie mit Ihrem Kind in Ruhe und ohne Vorwürfe darüber, wie es selbst die Situation erlebt. Fühlt es sich überfordert? Versteht es den Lernstoff nicht, weil der Faden schon lange gerissen ist? Darauf würden schlechte Noten in vielen Fächern deuten, die sich auch durch Nachhilfe nicht verbessern lassen. In einem solchen Fall besteht kaum Aussicht, das Klassenziel noch zu erreichen. Häufig ist ein Schulwechsel, zum Beispiel vom Gymnasium auf eine Gesamt- oder Realschule, die bessere Alternative. „Wenn ein Kind auf dem Gymnasium überfordert ist, macht es keinen Sinn, es nur mit Nachhilfe und Druck zum Abitur zu bringen“, unterstreicht die Pädagogin Barbara Endres.
War Ihr Kind längere Zeit krank? Gab es in der Schule oder in Ihrer Familie belastende Ereignisse? Wird Ihr Kind vielleicht gemobbt? Gibt es zu Hause viel Streit? Haben Sie und Ihr Partner sich möglicherweise sogar getrennt? Auch solche Probleme können die schulischen Leistungen in den Keller drücken – allerdings meist nur vorübergehend.
Motivation und Selbstverantwortung
Hat das Kind vielleicht Probleme mit einem Lehrer? Oder fehlt es einfach an Lernbereitschaft und Konzentration? Gerade in der Pubertät weist die Motivationskurve bei vielen Jugendlichen steil nach unten. Fragen Sie, wie Ihr Kind seine Chancen einschätzt und wie es seiner Meinung nach weitergehen soll. Ein Schuljahr zu wiederholen, bedeutet immer auch, den vertrauten Kreis der Mitschüler verlassen zu müssen. Ist dies Ihrem Kind bewusst? Wie wichtig sind ihm die Versetzung und ein guter Schulabschluss? Ist es bereit und in der Lage, dafür zusätzlichen Lernstress auf sich zu nehmen?
„Aus meiner Erfahrung halte ich es für ganz wichtig, dass Eltern ihrem Kind klar machen, dass es letztlich selbst die Verantwortung für seinen Lernerfolg übernehmen muss und die Konsequenzen zu tragen hat“, betont Barbara Endres. „Es muss begreifen, dass Englisch so wichtig ist, weil es sich damit auf der ganzen Welt verständlich machen kann. Und dass Mathekenntnisse nichts schaden, wenn man beim Handyvertrag nicht übers Ohr gehauen werden will.“ Solche Gespräche sind nicht einfach. Sie verlangen Eltern einiges an Geduld und Verständnis für ihr Kind ab – aber auch an Konsequenz.
Gespräch mit dem Lehrer
Sie wissen nun, wie Ihr Kind die Situation sieht, aber die Noten werden von den Lehrern vergeben. Am besten vereinbaren Sie so schnell wie möglich Termine mit dem Klassenlehrer bzw. mit den Lehrern der „Problemfächer“. Erzählen Sie, was der „Blaue Brief“ für Sie als Mutter oder Vater bedeutet und wie Ihr Kind die Situation sieht. Möglicherweise ist es auch sinnvoll, dass Ihr Kind ebenfalls an dem Gespräch teilnimmt.
Nutzen Sie die Chance, Details über die Schwächen Ihres Kindes zu erfahren, aber auch über seine Stärken. Wo sind die Lücken? Hapert es vielleicht am Leseverständnis? Vergeigt Ihr Nachwuchs schriftliche Tests, arbeitet aber gut mit? Oder zeigt sich das Kind im Unterricht passiv und desinteressiert? All das gibt Ihnen Anhaltspunkte für das weitere Vorgehen. Bitten Sie um eine offene Einschätzung, ob das Kind das Klassenziel noch erreichen kann. Wäre ein Notenausgleich oder eine Nachprüfung eine Option? Was kann Ihr Kind jetzt noch tun, um seine Leistungen zu verbessern? Wie können Sie es dabei am besten unterstützen? Wäre Nachhilfe eine Lösung? Diese Fragen sollten Sie den Lehrern stellen.
Lernplan für den Endspurt
Ihr Kind ist grundsätzlich motiviert und in der Lage, dem Lernstoff zu folgen? Es will das Klassenziel erreichen und ist bereit, sich dafür anzustrengen? Dann sind die wichtigsten Voraussetzungen schon mal erfüllt und Sie können die Tipps der Lehrer nutzen, um die Wissenslücken in den Problemfächern zu analysieren und gemeinsam einen Plan für den Endspurt oder eine Nachprüfung zu erarbeiten. Bleiben Sie dabei vor allem realistisch: Jetzt noch von einer Fünf auf eine Drei zu kommen oder gleich in mehreren Fächern das Ruder herumzureißen, ist illusorisch. Aber eine Fünf noch in eine Vier zu verwandeln, ist durchaus machbar.
Erstellen Sie eine Übersicht über alle anstehenden Klassenarbeiten und planen Sie genug Zeit für Extraaufgaben und Übungen ein. Bleiben Sie in engem Kontakt mit den Lehrern und teilen Sie das Lernpensum in überschaubare Portionen. Regelmäßige „Lernhäppchen“ bringen mehr als punktuelle Gewaltaktionen. Auch kleine Lernfortschritte verdienen Lob. Mit einem Lern- und Erfolgstagebuch sieht Ihr Kind seine Erfolge schwarz auf weiß – das motiviert und stärkt das Durchhaltevermögen.
Noch ein Tipp von Lehrerin Endres: „Wenn die Noten auf der Kippe stehen, können Schüler mit mündlicher Mitarbeit noch einiges reißen. Schließlich zählen die mündlichen Noten in manchen Fächern 50 Prozent. Mit aktiver Beteiligung oder auch einem freiwilligen Referat lässt sich manche verhauene schriftliche Arbeit doch noch ausgleichen.“
Nachhilfe – Hilfe zur Selbsthilfe
Gerade wenn die Zeit knapp ist oder wenn eine Nachprüfung vorbereitet wird, kann professionelle Nachhilfe sinnvoll sein. Vielleicht können Ihnen die Lehrer einen geeigneten Lehrer oder ein Institut empfehlen. Gute Einrichtungen bieten ein ausführliches Informationsgespräch, wecken keine unrealistischen Erwartungen. Sie fördern die ihnen anvertrauten Schüler individuell und informieren die Eltern regelmäßig über die Lernfortschritte ihres Kindes.
Angesichts des Zeitdrucks nach dem Blauen Brief ist es auch bei Nachhilfe sinnvoll, sich möglichst auf ein Fach zu konzentrieren und Einzelunterricht zu wählen. Dann hat der Lehrer die Möglichkeit, direkt bei den Schwächen des Schülers anzusetzen, gezielt Fragen zu beantworten und das Fachwissen besonders gründlich zu vermitteln. Die Preise für Einzelunterricht liegen zwischen zehn und 30 Euro.
„Nachhilfe“, rät Barbara Endres, „sollte immer nur den Anstoß geben. Sie ist sinnvoll für den Endspurt zum Klassenziel oder zur Vorbereitung auf die Nachprüfung. Darüber hinaus kann der Unterricht fortgesetzt werden, um die wichtigsten Wissenslücken zu schließen und um sinnvolle und effektive Lernmethoden zu vermitteln. Danach sollte das Kind in der Lage sein, selbständig zu lernen. Keinesfalls sollte Nachhilfe zur Dauereinrichtung werden.“
Letzter Ausweg Anwalt?
Ihr Kind hat schlechte Noten, doch Sie haben keinen Blauen Brief bekommen? Das ist kein Grund, sich entspannt zurückzulehnen. „Zwar ist die Schule verpflichtet, Eltern und Schüler über die drohende Nicht-Versetzung zu informieren. Doch dafür genügt das Halbjahreszeugnis. Wenn der ‚Blaue Brief’ unterbleibt, lässt sich daraus kein Recht auf Versetzung ableiten“, erklärt der Kölner Rechtsanwalt Torsten Boderke.
Auch wenn Eltern der Meinung sind, dass ihr Kind wegen unfairer Benotung sitzenzubleiben droht, ist der Rechtsweg nicht unbedingt empfehlenswert. Denn Lehrern wird bei der Benotung ein breiter Ermessensspielraum zugestanden. Da sich die Benotung in letzter Konsequenz kaum juristisch überprüfen lässt, enden entsprechende Verfahren meist ergebnislos. Abgesehen davon kann sich der Rechtsweg von der Beschwerde bei der Schulleitung bis zur Klage vor dem Verwaltungsgericht über zwei Jahre oder mehr hinziehen – und das mit ungewissen Aussichten. Besser ist es auch in diesem Fall, das Gespräch mit dem Lehrer zu suchen, nach Gründen für die Benotung zu fragen und auf Schuldzuweisungen zu verzichten.
Chancen nutzen – Rücken stärken
Wie auch immer das Schuljahr ausgeht – auch wenn Ihr Kind nicht versetzt wird, bedeutet dies nicht den Untergang des Abendlandes. Betrachten Sie den Warnschuss „Versetzung gefährdet“ auch als eine Chance: für eine schulische Neuorientierung, als Weckruf für Selbstverantwortung und eine neue Lernmotivation und vor allem als Chance, familiären Zusammenhalt zu leben, indem Sie sich gemeinsam mit Ihrem Kind mit dem Thema Zukunft auseinandersetzen, ihm Sicherheit und Vertrauen geben und den Rücken stärken.
Service
Zum Weiterlesen
- Walter Kowalczyk, Klaus Ottich:
Versetzung gefährdet: Ehrenrunde oder durchstarten?
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Weiterführende Links
www.nummergegenkummer.de – das größte, kostenfreie, telefonische Beratungsangebot für Kinder und Jugendliche, bietet auch Tipps im Web und hat eine Rufnummer für Eltern (0800/1110550).
www.familienhandbuch.de – Informationen zum Thema „Versetzung gefährdet – was nun?“