Etwas Stibitzen - ist das schon Diebstahl?

Wenn Kinder stehlen

Zuerst ist es vor allem peinlich, wenn die Lehrerin oder der Inhaber des Kiosks um die Ecke anruft und sagt: Ihr Kind stiehlt. Dann kommen die Fragen: Warum tut es das? Ist es auf die schiefe Bahn geraten? Und was sollen wir da jetzt machen? Erziehungsberater Andreas Engel weiß Rat.

Autor: Maja Roedenbeck

Stehlen ist schon im Kindergarten ein Thema

Kind klaut Bonbons
Foto: © Panthermedia.net/ Diego Cervo

Als Alina mit ihrer Mutter einkaufen geht, sieht sie plötzlich ein tolles Ding. Es ist genau das gleiche Ding, das Jule heute Morgen im Kindergarten dabei hatte. Schnell verschwindet das Ding in Alinas Hosentasche. Fast von allein! Erst zu Hause wird Alina klar, dass sie geklaut hat. Und sie kann sich gar nicht mehr über das Ding freuen… In dem Bilderbuch „Das Ding oder Der verflixte Diebstahl“ von Mirjam Pressler (12,95 Euro, Ellermann Verlag, ab 4 Jahren) wird das Thema Kinderdiebstahl, bei dem viele Eltern keinerlei Verständnis aufbringen, einfühlsam aus der Perspektive des Kindes behandelt. Die Altersfreigabe zeigt, dass Stehlen durchaus schon im Kindergartenalter ein Thema ist. Und zwar ein schwieriges.

Um zu verstehen, dass und warum man anderen nichts wegnehmen darf, müssen Kinder zunächst lernen, dass es so etwas wie Eigentum überhaupt gibt. Der Begriff ist ja nicht von Natur aus vorgegeben und hat in jedem Kulturkreis eine etwas andere Bedeutung. „Hierzulande hat das Eigentum einen sehr hohen Stellenwert, und das lernen Kinder durch das Vorbildverhalten der Eltern und durch die häufige Wiederholung der Regel: ‚Du darfst niemandem etwas wegnehmen’“, sagt Diplom-Psychologe Andreas Engel aus Hof in Nordbayern, der in einer Erziehungsberatungsstelle arbeitet und dort von Zeit zu Zeit mit dem Problem Kinderdiebstahl konfrontiert wird, „Das funktioniert aber nicht von heute auf morgen.“

Die Gewissensbildung ist eine fließende Entwicklung

Im Alter von einem oder zwei Jahren verstehen die Kleinen in einem ersten Entwicklungsschritt, dass sie einem anderen Kind sein Spielzeug nicht wegnehmen dürfen, weil es sonst traurig wird. Das geht ihnen ja selbst genauso. „Sie verstehen das aber nur für den Moment, in dem man es ihnen erklärt, und denken dabei noch nicht an Eigentum, sondern in rein emotionalen Kategorien“, erklärt Andreas Engel, „Erst ab dem vierten oder fünften Lebensjahr können Kinder mit dieser abstrakten Norm etwas anfangen und sie verinnerlichen, sodass man sie ihnen nicht mehr in jeder entsprechenden Situation neu erklären muss.“ Spätestens im Grundschulalter sollten Eltern ihrem Nachwuchs deutlich machen, dass es Privateigentum gibt. Und dass man es nicht wegnehmen darf, ganz unabhängig davon, welche emotionalen Reaktionen das auslösen könnte.

Doch auch wenn der Sprössling das soweit kapiert hat, kann es vorkommen, dass er stiehlt. Allerdings droht er deshalb nicht gleich, wie seine Eltern sicher befürchten, auf die schiefe Bahn zu geraten. „Im Gegenteil, wenn ein Kind zum ersten Mal flunkert, klaut oder sich aus Höflichkeit verstellt, zeigt es damit, dass es einen wichtigen intellektuellen Entwicklungsschritt gemeistert hat. Einem Kind mit einem Intelligenz-Defizit wird so etwas eher nicht gelingen“, beruhigt Erziehungsberater Engel die besorgten Eltern, „Jemanden hinters Licht führen, selbst auf Nachfrage die Wahrheit leugnen und das Geheimnis bewahren ist eine sehr differenzierte Leistung, die das Kind ab dem späten Kindergartenalter ausprobiert und bis zum zehnten Lebensjahr perfektioniert.“ In den meisten Fällen geschehen Kinderdiebstähle in der entsprechenden Entwicklungsphase, die auch wieder vorübergeht.

Was tun, wenn mein Kind stiehlt?

Doch Entwicklungsphase hin oder her – dulden können Eltern das Fehlverhalten des Kindes natürlich nicht. Darüber hinwegzusehen ist genauso wenig angebracht wie in Schimpftiraden auszubrechen und drakonische Strafmaßnahmen anzudrohen. Der Experte rät, das Kind zuerst ruhig und deutlich darauf hinzuweisen, dass Stehlen falsch ist, und dann die Situation zu analysieren: „Die Königsfragen lauten: WAS hat das Kind genommen? Von WEM hat es etwas genommen? Und was hat es damit gemacht? Daraus kann man oft schon die Motivation erkennen: wen das Kind beneidet oder wem es schaden will, von wem es mehr erwartet als es bekommt.“ Vielleicht klaut es Dinge, die unter Gleichaltrigen als Statussymbol gelten, oder um Freunden seinen Mut zu beweisen. Dahinter steckt in beiden Fällen der Wunsch dazuzugehören. Vielleicht stiehlt es so auffällig, dass es sicher sein kann, erwischt zu werden. Dann will es möglicherweise seine Rebellionshaltung gegen die Eltern unterstreichen oder bettelt mit seinem Verhalten um ihre Aufmerksamkeit.

Die Motivation bei jüngeren Kindern ist meist eine andere als bei Jugendlichen: „Wenn ein neues Geschwisterkind auf die Welt kommt, fühlt sich das Erstgeborene oft zurückgesetzt und stiehlt zum Beispiel Süßigkeiten, um sich selbst etwas Gutes zu tun. Damit zeigt es: ‚Mir stehen auch Liebe und Aufmerksamkeit zu’ und kompensiert den Mangel“, so Andreas Engel. Selbst wenn Geld aus der Börse geklaut werde, gehe es selten um materielle Bedürfnisse: „Geld und Waren stehen in unserer Gesellschaft für das Gefühl, versorgt zu sein und Aufmerksamkeit zu bekommen. Wer sich Geld nimmt, ist auf der Suche nach Liebe.“

Wenn Eltern, nachdem sie die Situation analysiert haben, nachvollziehen können, warum ihr Kind stiehlt, können sie mit ihm gemeinsam das Problem, das hinter der Tat steckt, zu lösen versuchen. Das Klauen selbst wird dabei zur Nebensache. Dennoch sollte es Konsequenzen haben: „Zeigen Sie Ihrem Kind eine konkrete Möglichkeit auf, seine Tat wieder gutzumachen und begleiten Sie es dabei“, sagt Diplom-Psychologe Engel. „Es sollte die geklaute Sache zurückgeben oder ersetzen und sich entschuldigen.“ Die Konfrontation mit dem Bestohlenen bewirkt oft Wunder in Sachen Gewissensbildung. Außerdem versteht es sich von selbst, dass man das offenbar noch ungefestigte Kind nicht in Versuchung bringen sollte, indem man Geld offen herumliegen lässt oder es alleine in den Supermarkt schickt.

Wann ist eine Erziehungsberatung sinnvoll?

So lange der Kinderdiebstahl die Ausnahme bleibt, kann das Problem innerhalb der Familie gelöst werden. Stiehlt der Nachwuchs allerdings noch im Schulalter und das womöglich häufiger, ist Hilfe von außen die beste Lösung. Denn dann steckt wahrscheinlich ein schwerwiegenderer Konflikt dahinter. „In der Beratung helfen wir den Eltern, tiefer in die Thematik einzusteigen und Zusammenhänge zu erkennen“, erklärt Andreas Engel. „Gerade bei Jugendlichen ist es wichtig, mit ihnen ins Gespräch zu kommen und ehrliches Interesse an ihrem Befinden zu signalisieren, bevor sie komplett zumachen. In diesem Alter kann das Klauen ein Zeichen für ein Intelligenzdefizit oder eine Entwicklungsverzögerung sein. Vielleicht fehlt dem Jugendlichen die Einsicht, dass sein Verhalten falsch ist.“

Die aber sollte beim Teenager vorhanden sein. Das Strafrecht greift ab 14 Jahren. Spätestens jetzt hat der Diebstahl Konsequenzen. Vorher nur im Einzelfall, auch wenn es immer heißt „Eltern haften für ihre Kinder“. „Sie haften nur dann, wenn sie ihrer Aufsichtspflicht nicht nachgekommen sind“, weiß Erziehungsberater Engel, „Aber das Gesetz verlangt nicht, dass Eltern ihre Kinder rund um die Uhr bewachen. Wer sein achtjähriges Kind alleine in den Supermarkt schickt, um Brötchen zu holen, handelt vertretbar. Wenn es dort etwas klaut, haften die Eltern nicht. Der Geschädigte kann sich rein rechtlich natürlich an das Kind halten, doch das wird die absolute Ausnahme bleiben, da er sich erst einen rechtsfähigen Titel besorgen und dann solange warten müsste, bis das Kind im Verlauf seines Lebens verwertbares Vermögen erwirbt. Aber wenn Eltern ihr Kind alleine in den Supermarkt schicken, obwohl sie darüber informiert wurden, dass es dort schon mehrmals gestohlen hat, dann kann das als Verletzung der Aufsichtspflicht interpretiert werden und dazu führen, dass die Eltern für ihr Kind haften müssen.“

Was tun, wenn mein Kind von anderen bestohlen wird?

Nun können Kinder bei einem Diebstahl nicht nur zum Täter, sondern auch zum Opfer werden. Sei es in der Schule oder im Sportverein, überall gibt es Altersgenossen, die ihre Machtspielchen treiben und ihre Stärke beweisen wollen, indem sie einem Kameraden etwas wegnehmen. Und dann? Soll ich als Mama gleich wutschnaubend bei den Eltern des Täters anrufen und mit einer Anzeige drohen? „Nein“, winkt Andreas Engel ab, „erstmal Ruhe bewahren und nicht über den Kopf des Kindes hinweg entscheiden oder agieren. Zuerst ist es sinnvoll, sich mit dem Kind zu beratschlagen: Empfindet es den Verlust der geklauten Sache überhaupt als so schlimm? Nach Möglichkeit sollte es die Angelegenheit selbst regeln und vom Täter fordern: ‚Ich möchte, dass du mir meine Sachen zurückgibst.’ Erst wenn das nichts hilft, können die Eltern eingreifen, aber immer angemessen aus dem Hintergrund.“

Zuletzt ermahnt der Experte uns Eltern, nichts Unmögliches von unseren Kindern zu erwarten. So schwer das zu akzeptieren sein mag – sie wachsen auch hier in Europa nicht in einem Umfeld auf, in dem es immer gerecht und geregelt zugeht. „In unserer gesamten Gesellschaft ist es mit dem Gewissen nicht allzu weit her. […] Wenn sich nicht einmal die Erwachsenen vorbildhaft verhalten, wie sollen dann Kinder verstehen, was richtig und falsch ist?“, fragt Andreas Engel und deutet damit an, dass die Werte, die wir unseren Kindern mit auf den Weg geben, sich unter den Einflüssen von außen erst behaupten müssen.