Wie Mädchen heute wirklich sind
Mädchen sollen heute am besten alles sein: burschikos wie die rote Zora und zugleich feminin sanft wie eine rosarote Fee. Die Vielzahl der Möglichkeiten und teils widersprüchlichen Anforderungen macht es Mädchen nicht immer leicht, ihren eigenen Weg zu finden.
Das neue Mädchen – von allem ein bisschen?
Es machte meine Mutter früher immer ein bisschen ratlos, wenn wieder einmal ein Nachbar bei uns klingelte und sich darüber beschwerte, dass ich über seinen Maschendrahtzaun geklettert war, um Haselnüsse aus seinem Garten zu stehlen. Oder wenn ich, mit selbst geschnitztem Pfeil und Bogen bewaffnet, mit einer Gruppe von Jungs loszog, um auf einem unbebauten Grundstück stundenlang Indianer zu spielen. Mich selbst dagegen machte es ein paar Jahrzehnte später ratlos, wenn ich meine kleine Tochter dabei beobachtete, wie sie hingebungsvoll ihre Puppen wickelte, ihr Bett mit Plüschtieren pflasterte oder auch energisch darauf bestand, von Kopf bis Fuß in nichts anderes als Rosa gekleidet zu sein. Woher hatte sie das bloß? Und war das nicht irgendwie ein Rückschritt in Sachen Girl-Power?
Das „doppelte Lottchen“ in einer Person
Noch vor 60 Jahren war ganz klar, wie ein kleines Mädchen zu sein hatte: Hübsch zurechtgemacht, brav, keinesfalls vorlaut und nach Möglichkeit schon früh an der Küchenarbeit interessiert. Doch schon Erich Kästner schuf damals in seinem „Doppelten Lottchen“ einen Gegenentwurf zum kleinen Hausmütterchen: den ungebändigten und im Haushalt völlig unbegabten Zwilling Luise, der im Gegensatz zu seiner Schwester Lotte Eigenschaften besitzt, die damals als eher typisch für Jungen galten. Diese beiden gegensätzlichen Entwürfe gibt es in abgeschwächter Form bis heute. Doch es gibt einen gravierenden Unterschied zu früher: Während eine ungebändigte „Rote Zora“ oder „Ronja Räubertochter“ dem mit Puppen spielenden, „typischen“ Mädchen diametral entgegengesetzt waren, soll ein Mädchen heute am besten beide Seiten verkörpern: Es soll „stark, selbstbewusst, schlau, schlank, [als Teenager] sexy, sexuell aktiv und aufgeklärt sein, gut gebildet, familien- und berufsorientiert, heterosexuell, weiblich, aber auch cool und selbständig - aber auch anschmiegsam. Es kann alles bewältigen und kennt keine Probleme, keinen Schmerz – all dies in Summe, nicht wahlweise“, so Dr. Claudia Wallner, Autorin und Mitbegründerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Mädchenpolitik, zu den gesellschaftlichen Erwartungen an ein Mädchen.
Dies zeige zwar, so die Diplom-Pädagogin, dass gesellschaftliche Rollenbilder deutlich weiter und vielfältiger geworden seien. „Sie sind aber auch in sich widersprüchlich, und sie sind deutlich überfordernd. Sie stellen so viele Optionen bereit, Mädchen zu sein, dass es wenig Orientierung gibt. Und sie lassen keine Ängste, Unsicherheiten und kein Scheitern zu“, so Dr. Wallner auf einer Fachtagung.
Erziehung - immer noch von traditionellen Werten geprägt
Seltsamerweise stimmt diese gesellschaftliche Erwartung an ein Mädchen nicht damit überein, wie Mädchen wirklich erzogen werden – nämlich immer noch sehr nach traditionellen Rollenmustern. Das Deutsche Jugendinstitut (DJI) stellte fest, dass die Geschlechtszugehörigkeit immer noch mitentscheidend für die Herausbildung der sozialen Werte ist. Dies spreche, so das DJI zu den Ergebnissen seines Jugendsurveys (2004) dafür, „dass nach wie vor geschlechtsspezifische Sozialisationsprozesse stattfinden, die Mädchen und jungen Frauen stärker eine helfende, unterstützende und eine für Personen verantwortliche Rolle in der Gesellschaft zuschreiben."
Dieser Trend setzt sich fort, denn auch die 15. Shell Jugendstudie resümierte 2006: „Typische Werteunterschiede der Geschlechter haben sich sogar verstärkt, weil weibliche Jugendliche ihre Durchsetzungsfähigkeit nicht mehr so deutlich betonen wie noch 2002.“ Beide Studien ergaben, dass die Jugendlichen soziales Engagement, Hilfsbereitschaft, Emotionalität und Religiosität immer noch als „typisch weibliche“ Eigenschaften bewertet wurden, während die Bereiche „Geld verdienen, Macht und Einfluss“ nach wie vor den Männern zugeordnet wurden.
Töchter helfen mehr im Haushalt als Söhne
Dass dies nicht von Ungefähr kommt, zeigt schon ein Blick auf den Familienalltag. Zwar machen sich Eltern heute mehr Gedanken über Erziehung und über ihre Vorbildrolle. Doch immer noch bekommen Mädchen durchschnittlich weniger Taschengeld als Jungen. Und immer noch müssen viel mehr Mädchen im Haushalt helfen als Jungs. „Unsere neueste Zeitbudgetstudie belegt wieder einmal, dass zwölfjährige Mädchen schon viel mehr Hausarbeit machen als Jungen. Wobei die Jungen über die wenigere Arbeit sogar noch mehr klagen. Schon da wird also mit zweierlei Maß gemessen. In den Schulen geht das weiter“, erläutert Privatdozentin Dr. Waltraud Cornelißen,Leiterin der Abteilung Geschlechterforschung und Frauenpolitik am Deutschen Jugendinstitut in einem Interview.
Mädchen und Jungen werden von Erwachsenen also unterschiedlich behandelt. „Und zwar von Geburt an. Während wir bei den Mädchen ihr Aussehen lobend erwähnen, wird bei Jungen eher deren Kraft betont. Mit Mädchen wird mehr gesprochen, ihnen vorgelesen, mit den Jungen gerauft und Fußball gespielt. Die Spielwarenindustrie setzt das fort“, erklärt Dr. Waltraud Cornelißen vom DJI. „Wir dürfen auch nicht den sehr starken Einfluss der Gleichaltrigengruppen übersehen. Schon im Kindergarten fühlt sich ein Kind, das sich traditionell verhält, sicherer, als zum Beispiel ein Mädchen, das lieber mit den Jungen Fußball spielt, während die Freundinnen die Puppen spazieren fahren.“
Außerdem leben viele Eltern ihren Töchtern selbst oft noch die klassische Rollenteilung vor: Nach einer Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung von 2010 ist immer noch in der Hälfte aller Haushalte der Mann mit seinem Einkommen der Haupternährer der Familie. Erst in jedem fünften Haushalt hat die Frau diese Rolle übernommen.
Nur wenig „Mädchen“ liegt in den Genen
Die Kraft der Rollenklischees ist groß. Die Geschlechterforschung ist sich zwar heute weitgehend darin einig, dass die Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen teils anerzogen, teils biologisch bestimmt sind. Neu ist aber die Erkenntnis, wonach die Biologie eine viel kleinere Rolle spielt als früher angenommen. Im Jahr 2005 wertete die Psychologin Professor Janet Hyde von der Universität Wisconsin die Studien der letzten 20 Jahre zu den Unterschieden zwischen Männern und Frauen aus. Im Mittelpunkt standen dabei kognitive Fähigkeiten, Kommunikation, Selbstbewusstsein, Aggressionsbereitschaft, Führungsstil, Moral, aber auch motorische Fähigkeiten. Die Auswertung ergab: Die Unterschiede in Denken, Handeln und Emotionen sind zwischen Männlein und Weiblein eher minimal. Nur in bestimmten sportlichen Bereichen schnitten Frauen nicht so gut wie Männer ab. Außerdem gab es Unterschiede im Sexualverhalten und bei körperlicher Aggression. So sind Mädchen und Frauen zum Beispiel zwar nicht weniger aggressiv als Jungen oder Männer, zeigen dies aber eher auf indirekte und weniger auf körperliche oder wettkampfbetonte Weise.
Rosa – keine Mädchenfarbe!
Angeboren ist übrigens auch nicht die angebliche Vorliebe von Mädchen für Rosa. Die britischen Forscher Anya Hurlbert und Yazhu Ling mussten im Jahre 2007 viele Mütter enttäuschen, die bisher davon überzeugt waren, ihre Tochter habe eine angeborene Affinität zur Farbe der Feen und „Fillys“. In Wirklichkeit, so die Wissenschaftler von der Universität Newcastle, ist schlicht Blau die Lieblingsfarbe der allermeisten Menschen, egal ob männlich oder weiblich. Wenn es um die zweitliebste Farbe geht, bevorzugen Mädchen tatsächlich oft Rosa- und Rottöne. Auffallend ist dabei aber, dass diese Vorliebe erst im Alter von etwa zweieinhalb Jahren auftritt, also zeitgleich mit der Entdeckung der Kleinen, dass es zweierlei Geschlecht gibt. Die Forscher glauben deshalb, dass Mädchen etwa in diesem Alter vermittelt bekommen, dass Rosa eine typisch weibliche Farbe ist, und sich deshalb damit identifizieren.
Unsicher, aber erfolgreich
So Manches, was wir traditionell für „typisch Mädchen“ halten, kommt also eher von außen – und es kann Mädchen verunsichern. Mädchen, so beobachteten Wissenschaftler, sorgen sich mehr um ihre Außenwirkung. Ihr Selbstvertrauen ist weniger stabil als das von Jungen, und sie zweifeln umso mehr an sich, je älter sie werden. Sie sind ihren Eltern vom Wesen her ähnlicher als ihre Brüder, weil sie sich mehr bemühen, ihnen zu gefallen. Trotz mancher Selbstunsicherheiten aber haben Mädchen heute mit ihren Geschlechtsgenossinnen von vor 60 Jahren nicht mehr viel gemeinsam, sondern schwimmen sich zunehmend frei: Sie brillieren heute im Fußballverein ebenso wie beim Kampfsport oder werden Europameisterinnen im Drachenbootfahren. Sie erheben ihre Stimme nicht nur als Klassen- oder Schulsprecherinnen, sondern nehmen auch bei „Jugend forscht“ teil. Und bekanntlich holen sie in Sachen Schule, Bildung und Beruf nicht nur auf, sondern überflügeln die Jungen hier sogar. So machen zum Beispiel mehr Mädchen Abitur als Jungen.
Wie kann ein Mädchen herausfinden, wer es ist?
Doch wie können Eltern traditionelle Prägungen noch mehr abschwächen und ihrer Tochter helfen, dem Aufruf des antiken griechischen Dichters Pindar „Werde, der du bist!“ zu folgen? Dies geht paradoxerweise am besten durch Nicht-Wissen. Eltern sollten immer wieder einmal „vergessen“, wie ein Mädchen „normalerweise“ ist, womit es gern spielt und was es gern trägt. Sondern einfach ausprobieren, was bei der eigenen Tochter wirklich gut ankommt. Die Farbe Rosa kann man – wegen ihrer Übermacht - dabei erst einmal weglassen und abwarten, ob wirklich vom Kind selbst der Wunsch nach rosa Kleidungsstücken kommt. Bei der Auswahl des Spielzeugs können Eltern ebenfalls versuchen, dem reflexhaften Griff nach Puppenwagen und Kinderküche zu widerstehen. Warum nicht schauen, wie ein kleiner Werkzeugkasten bei der Tochter ankommt, oder ein einfacher Bausatz für ein Windspiel, ein Fußball, ein Kettcar, eine Autorennbahn, ein Kindertaschenmesser samt Schnitzholz?
Und weil Rollenklischees oft auch schon im Kindergarten vermittelt werden, können Eltern auch bei den Erzieherinnen nachdrücklich anregen, dass verstärkt auch die Mädchen mit kleinen Projekten an die Werkbank und in die Bauecke gelockt werden. Vielleicht sogar nach festen Mädchen- und Jungenzeiten, damit die Jungs die Mädchen nicht durch geballte Boy-Power vertreiben.
Mädchen in Jungendomänen locken
Eltern von Teenie-Töchtern können außerdem mit dem weiblichen Nachwuchs darüber sprechen, warum ein Praktikum als Erzieherin, Bürokauffrau, Krankenschwester, Arzthelferin oder Frisöse nicht unbedingt die beste Wahl ist. Denn diese Berufe sind gekennzeichnet durch geringe Entlohnung, begrenzte Aufstiegsmöglichkeiten, oft auch durch geringe gesellschaftliche Anerkennung oder ungünstige Arbeitsbedingungen. Mädchen können sog. „Girls Days“ nutzen, bei denen Betriebe Mädchen ermöglichen, in bisher eher als typisch männlich verstandene Berufe hinein zu schnuppern. Väter können ihre Töchter in den Ferien außerdem nach Absprache mit ihrem Chef auch einmal für einen Tag am eigenen Arbeitsplatz zuschauen lassen, Lehrer Eltern einladen, um sie vor der Klasse über ihren Beruf sprechen und ihn vorstellen zu lassen.
Auch ein frühzeitiges Gespräch beim Arbeitsamt (spätestens anderthalb Jahre vor dem angestrebten Schulabschluss) ist wichtig, damit ein Mädchen erfährt, welche Berufe es überhaupt gibt. Denn viele Teenies kennen nur ein knappes Dutzend davon und wissen kaum etwas von den mehreren hundert und zum Teil auch ganz neuen Berufsbildern, etwa in den Bereichen Technik und Umwelt.
Vertrauen in die innere Stimme wecken
Weil Mädchen Aggressionen oft nicht körperlich gegen andere richten und Wutausbrüche bei ihnen immer noch als unpassend gelten, richten sie Wut (z. B. im Teenie-Alter) weitaus häufiger gegen sich selbst als Jungen, wie eine gesamteuropäische Studie von 2010 ergab, an der die Universität Heidelberg mitwirkte (Saving and Empowering Young Lives in Europe, SEYLE). Eltern sollten daher ihrem noch so niedlichen Mädchen schon früh zugestehen, dass es auch ungeliebte Gefühle hat: dass es seiner Wut mal lautstark Luft macht, schreit, in Notwehr ein Angreiferkind haut, zu Hause eine Tür knallt, böse Worte benutzt.
Mütter und Väter können Töchtern außerdem vermitteln, wie man auf die innere Stimme, die eigenen Bedürfnisse zu hören lernt. Der Koordinator der SEYLE-Studie für die Uni Heidelberg, Dr. Michael Kaess dazu: „Eltern können Töchtern beibringen, dass sie mehr auf sich selbst achten und sich auch gegen Forderungen anderer abgrenzen dürfen. Ganz wichtig ist die Stärkung des weiblichen Selbstwerts, damit ein Mädchen so angenommen wird, wie es ist.“ Da ist es also wieder: das „Werde, der du bist!“, das ein Mädchen nur schafft, wenn es zwar alle Möglichkeiten hat, aber nicht von ihm erwartet wird, dass es auch alle davon nutzt, oder alles auf einmal wird, was ein Mädchen sein kann. Es muss, je nach Veranlagung, ebenso leise und zurückhaltend sein dürfen, wie laut oder eine „Hanna Dampf in allen Gassen“. Es muss Nein sagen dürfen – auch zu elterlichen Erwartungen. Wer dies zu Hause darf, schafft es auch eher im Kindergarten, der Schule, der Clique.