Wann haften wir für unsere Kinder?

Aufsichtspflicht: Was Eltern wissen müssen

„Eltern haften für ihre Kinder“. Wirklich? Wie ist das mit der Aufsichtspflicht geregelt? Wann haften wir tatsächlich für unsere Kinder? Wie müssen wir uns verhalten, um der Aufsichtspflicht zu genügen?

Autor: Sabine Ostmann

Fürsorgepflicht der Eltern gegen Entdeckungsdrang der Kinder

Aufsichtspflicht: Kinder machen Quatsch
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Kinder sind neugierig und spontan. Sie wollen die Welt entdecken und alles ausprobieren. Sie hecken Streiche aus und vergessen beim Spielen manchmal alles um sich herum. Das kann ins Auge gehen: Etwa wenn ein Kind nach einem kumpelhaften Schubser unsanft auf dem Boden landet und sich den Arm bricht, wenn der Ball nicht ins Tor, sondern in Nachbars Fensterscheibe fliegt oder wenn beim Spielen Autos zerkratzt werden. Solche Malheurs sind schnell passiert – und ebenso schnell wird oft der Vorwurf erhoben, die Eltern hätten ihre Aufsichtspflicht vernachlässigt. Was genau hat es damit auf sich? Müssen Eltern ihre Kinder permanent im Blick haben? Wann können sie für Missgeschicke und Streiche ihrer Sprösslinge haftbar gemacht werden? Und welche Konsequenzen kann es haben, wenn sie im entscheidenden Moment nicht vor Ort sind?

Die elterliche Aufsichtspflicht

All dies regelt die elterliche Aufsichtspflicht. Sie ist ein Teil der in § 1631 BGB geregelten Personensorge und der elterlichen Fürsorgepflicht, die ganz allgemein das Recht und die Pflicht von Eltern umfasst, ihre Kinder zu pflegen, zu erziehen und zu beaufsichtigen. Die Aufsichtspflicht verfolgt grundsätzlich zwei Ziele: Minderjährige sollen vor Schäden bewahrt werden, die sie sich selbst oder die ihnen Dritte zufügen können. Andersherum sollen aber auch Dritte vor Schäden, die ihnen durch die „Gefahrenquelle Kind“ drohen können, geschützt werden.

Eine Verletzung der Aufsichtspflicht kann sowohl strafrechtlich wie zivilrechtlich weit reichende Konsequenzen nach sich ziehen. Verursacht ein Kind einen Schaden oder verletzt es sich, müssen die Eltern beweisen, dass sie ihre Aufsichtspflicht korrekt erfüllt haben. Bei Unfällen tritt zwar zunächst die Krankenversicherung ein, doch die erhebt Regressansprüche, wenn Eltern ihrer Aufsichtspflicht nicht nachgekommen sind. Hüten die Großeltern, Freunde oder eine Tagesmutter das Kind, übernehmen sie damit automatisch auch die Aufsichtspflicht. Das gilt auch beim Kindergeburtstag: Die Eltern des Geburtstagskindes haften nicht nur für den eigenen Sprössling, sondern auch für die kleinen Gäste.

Auch Kinder können für Schäden haftbar gemacht werden

Doch nicht immer haften automatisch die Eltern für ihre Kinder. Ab dem vollendeten siebten bzw. im Straßenverkehr ab dem zehnten Lebensjahr können auch die Kinder selbst haftbar gemacht werden, wenn sie die entsprechende Reife besitzen. In diesem Sinne entschied ein Gericht zum Beispiel nach einem Unfall, der durch einen elfjährigen Fahrradfahrer verursacht wurde. Der Junge fuhr entgegen der Fahrtrichtung auf einem Fahrradweg, überquerte offenbar ohne sich umzuschauen eine Querstraße und kollidierte mit einer Frau, die nicht rechtzeitig bremsen konnte. Die Frau verletzte sich und forderte Schmerzensgeld. Wurde die Aufsichtspflicht durch die Eltern verletzt? Nein, denn ein Elfjähriger müsse beim Fahrradfahren nicht permanent unter Aufsicht stehen, entschied das Gericht. Deshalb haften die Eltern in diesem Fall nicht. Ist er selbst für den Unfall verantwortlich? Ja, denn er war mit 11 Jahren nicht mehr berechtigt, auf dem Gehweg zu fahren, und hätte die Vorfahrt beachten müssen. Laut Gericht besitze er in seinem Alter die nötige Reife, um sein Fehlverhalten einschätzen zu können. Der Junge haftet deshalb allein für den Unfall. 

Eine Haftpflichtversicherung ist unabdingbar

Eltern sollten unbedingt eine Privathaftpflichtversicherung für die ganze Familie abschließen. Der Versicherungsschutz sollte „deliktunfähige Kinder“ einschließen. Deliktunfähig sind grundsätzlich Kinder bis zum siebten Lebensjahr. Bis zu diesem Alter gehen der Gesetzgeber und die Versicherer davon aus, dass Kinder nicht in der Lage sind, die Konsequenzen ihres Handelns so weit zu überblicken, dass sie dafür verantwortlich gemacht werden können. Im Straßenverkehr gilt das bis zehn Jahre. Kinder über sieben Jahre haften nur, soweit sie die notwendige Reife und Einsichtsfähigkeit besitzen. Schießt also ein Fünfjähriger einen Fußball in eine Scheibe, geht der Geschädigte leer aus – es sei denn die Eltern oder eine andere Aufsichtsperson haben ihre Aufsichtspflicht vernachlässigt. Dann tritt bei Fahrlässigkeit die Haftpflichtversicherung für den Schaden ein.

Aufsicht: Eltern im Dilemma

Eltern haben grundsätzlich Sorge dafür zu tragen, dass ihre Kinder weder Schäden anrichten noch selbst zu Schaden kommen. Doch wie soll ein Kind selbständig werden und Verantwortung für das eigene Verhalten übernehmen können, wenn Vater und Mutter es auf Schritt und Tritt verfolgen? Das Aufsichtsrecht stellt Eltern vor ein Dilemma: Einerseits müssen sie ihren Sprösslingen Freiräume gewähren, damit diese lernen, mit Risiken und Gefahren umzugehen. Andererseits müssen sie ihre Kinder und Außenstehende vor möglichen Schäden schützen. Und selbst die fürsorglichsten Eltern können ihre Augen nicht überall haben. Wie viel Kontrolle ist also nötig, wie viel ist angemessen? Wie sehen die gesetzlichen Richtlinien aus?

Es kommt immer auf den Einzelfall an

Das Dilemma der Eltern ist dem Gesetzgeber durchaus bewusst. So heißt es in § 1626 BGB, Absatz 2: „Bei der Pflege und Erziehung berücksichtigen die Eltern die wachsende Fähigkeit des Kindes zu selbständigem und verantwortungsbewusstem Handeln.“ Doch konkrete Regeln für den Inhalt und den Umfang der elterlichen Aufsichtspflicht gibt es nicht. Was sie ihren Kindern erlauben und verbieten, hängt von ihrem Augenmaß ab. Maßgeblich dafür sind das Alter, der Entwicklungsstand und die Charaktereigenschaften des Kindes. Ist es in der Lage, Gefahren zu erkennen und einzuschätzen? Befolgt es Anweisungen oder setzt es sich gerne mal darüber hinweg und spielt trotz Verbot am nahe gelegenen Baggersee oder auf der Straße? Ein Dreijähriger muss anders beaufsichtigt werden als ein Neunjähriger, eine wilde Hummel, die immer zu Streichen aufgelegt ist, anders als ein kleiner Musterknabe. Im Straßenverkehr oder beim Spielen in der Nähe einer Baustelle gelten andere „Spielregeln“ als auf dem Spielplatz.

Die Herausforderung für Eltern liegt also darin, abzuwägen, welche Gefahren ihrem Kind konkret drohen bzw. von ihm ausgehen können. Denn nur sie kennen seinen Entwicklungsstand und wissen, was es schon kann und womit es möglicherweise noch überfordert ist. Um ihrer Aufsichtspflicht nachzukommen, sollten sie ihr Kind auf jeden Fall über mögliche Risiken beim Spiel, beim Sport oder im Straßenverkehr aufklären und klare Regeln vereinbaren. Je nach Alter, Einsichtsfähigkeit und besonderen Umständen müssen diese Informationen wiederholt, Ermahnungen ausgesprochen oder Situationen – zum Beispiel das Verhalten auf dem Schulweg – eingeübt werden. Selbstverständlich sollten Eltern auch sicher sein, dass ihr Kind die Anweisungen verstanden hat und sie befolgt. Ist es noch zu klein oder setzt es sich häufig über Verbote hinweg, müssen die Eltern jederzeit in der Lage sein, einzugreifen.

Gerichtsurteile als Orientierungshilfe

Das bedeutet aber nicht, dass das Kind permanent beaufsichtigt werden muss. Je nach Alter und Situation genügt es, gelegentlich oder auch nur stichprobenartig zu kontrollieren, wo das Kind gerade spielt und was es treibt. Ein Beispiel aus der Rechtssprechung verdeutlicht, was damit gemeint ist: Zwei Jungen, einer sieben, einer fünf Jahre alt, zerkratzten auf einem Parkplatz mehrere Autos. Der Parkplatz befand sich direkt neben einem Spielplatz. Die Eltern hatten die Kinder dort alleine spielen lassen und sie aufgefordert, den Platz nicht zu verlassen. Zwei Geschädigte verklagten die Eltern wegen Verletzung ihrer Aufsichtspflicht auf Schadensersatz. Das Gericht wies die Klagen gegen die Eltern des Siebenjährigen ab. Der Junge sei zuvor nicht durch Streiche und aggressives Verhalten aufgefallen, deshalb sei es in Ordnung, wenn seine Eltern ihn bis zu zwei Stunden unbeaufsichtigt spielen lassen. Anders das Urteil im Fall des Fünfjährigen: In diesem Alter sei ein Kontrollabstand von 15 bis 30 Minuten geboten, entschied das Gericht.

Ab wann dürfen Kinder alleine zu Hause bleiben?

Diese und andere Fälle aus der Rechtspraxis geben zumindest eine ungefähre Richtlinie: Kleinkinder dürfen niemals unbeaufsichtigt bleiben. Bei Vierjährigen sollten die Eltern etwa alle 15 Minuten nach dem Rechten sehen – vorausgesetzt sie spielen auf einem sicheren Gelände und nicht etwa in unmittelbarer Nähe einer stark befahrenen Straße oder eines Sees; bei Sechsjährigen verlängert sich das Überwachungsintervall auf rund 30 Minuten. Auch dürfen sie nach vorheriger Unterweisung kleinere, ungefährliche Strecken mit dem Fahrrad zurücklegen. Ab diesem Alter können Eltern auch damit beginnen, ihr Kind allein zu Hause zu lassen, anfangs natürlich nur für wenige Minuten. Wenn das klappt, können die Zeiträume Schritt für Schritt ausgedehnt werden. Sicherheitshalber sollten Eltern immer telefonisch für das Kind erreichbar sein. Was gar nicht geht: Kinder während der Abwesenheit im Haus einschließen.

Bei Sieben- bis Achtjährigen, die von ihren Eltern ausreichend über Tun und Lassen belehrt wurden und ihre Anweisungen in der Regel befolgen, ist eine regelmäßige Kontrolle nicht mehr erforderlich. In diesem Alter müssen Kinder ihre Umgebung auch ohne elterliche Aufsicht spielerisch erkunden können, befand der Bundesgerichtshof in einem Urteil vom 24.03.2009 (Az. VI ZR 199/09). Denn andernfalls würde der Lernprozess im Umgang mit Gefahren gehemmt.

Doch wie gesagt: Es kommt immer auf den Einzelfall an.

 

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