Meins und Deins: Wie Kinder teilen lernen
Eltern können es an den fünf Fingern abzählen: Ein Eimer plus vier Kinder garantiert eine Hand voll Ärger. Und wenn es vier Eimer gibt, wollen alle den blauen. Gerade im Alter zwischen zwei und drei Jahren fällt es Kindern besonders schwer zu teilen. Wie können Kinder teilen lernen - und sollen sie das überhaupt?
Angeboren oder erlernt?
Wer den Kampf um ein Spielzeug beobachtet hat, kann sich kaum vorstellen, dass das Eigentumsdenken nicht angeboren sein könnte. Und mussten nicht schon die Höhlenmenschen ihr Essen verteidigen? Sonst hätte sich der moderne Mensch doch gar nicht entwickeln können. „Ganz so einfach ist das nicht“, wiederspricht der Entwicklungspsychologe und Familienforscher Hartmut Kasten. „Die Genforschung hat noch keine Beweise dafür gefunden. Zwar haben Lebensgemeinschaften schon immer ihre Jagdgebiete verteidigt, also etwas, was für die gesamte Gruppe wichtig war, aber das muss man von dem persönlichen Eigentum unterscheiden.“
Kasten verweist auf die Hirnforschung: „Es gibt viele Erkenntnisse, dass es die Gemeinschaft ist, die den Menschen in Sachen Eigentum prägt. Inzwischen gleichen sich die Kulturen der Welt zwar immer mehr an, aber es gibt immer noch Gemeinschaften, da lebt die ganze Familie ein einem gemeinsamen Raum. Dann ist die Ausprägung, das ist mein Zimmer, das ist mein Spielzeug, nicht vorgegeben und taucht dann auch nicht als Konflikt auf. Umgekehrt ist in unserer Kultur die Wertschätzung des Gemeinschaftseigentums nicht so hoch.“
Eltern müssen glaubwürdig sein
Was ich dem Kind beibringen will, hängt auch von den eigenen Wertvorstellungen ab. Was kann ich beim Kampf um den Bagger noch als gesundes Durchsetzungsvermögen akzeptieren und wo beginnt ein Egoismus, bei dem ein Kind Gefahr läuft, sich von der Gruppe zu isolieren? Dr. Heidemarie Arnhold vom Berliner Arbeitskreis Neue Erziehung e.V. rät Eltern, nicht zu verkopft an die Sache ranzugehen. „Es gibt viele Wege ein gesundes Verhältnis zu Eigentum zu entwickeln. Man muss sich aber im Klaren sein, dass eines scheitern wird: Dem eigenen Kind ein völlig anderes Wertebild vermitteln zu wollen, als man selber hat. Das hält keiner durch.
Wenn Eltern damit aufgewachsen sind und danach leben, alles in Meins und Deins aufzuteilen, werden sie die Botschaft nicht glaubwürdig vermitteln können, Spielsachen seien für alle da.“ Eltern müssen also authentisch sein. So kann es in einer vergleichbaren Situation richtig sein, dass die eine Mama ihrem Kind beibringt, ein Spielzeug herzugeben, die andere Mama aber ihr Kind bestärken würde, das Spielzeug zu behalten. Hauptsache, die Eltern leben ihre Werte auch vor. „Außerdem gibt es nicht nur die eine richtige Wertvorstellung“ betont Arnhold.
Das Verständnis von Eigentum muss sich entwickeln
Nun kenne ich mich vielleicht ganz genau und stehe auch zu meinen Werten, weiß aber damit immer noch nicht, wie ich sie meinem Kind vermitteln soll. Wann kann ich überhaupt von diesem kleinen Menschen die Einsicht erwarten, dass Teilen auch Freude bereiten kann? Wie schnell entwickeln Kinder ein Verständnis für Eigentum? Das lässt sich natürlich nicht auf den Monat genau sagen. Jedes Kind entwickelt sich auf seine Art und setzt dabei unterschiedliche Schwerpunkte. „Aber wenn ein zwölf Monate altes Baby nach einem Gegenstand greift, dann will es dieses Ding begreifen, nicht besitzen“, erklärt Arnhold. „Wenn ein Zweijähriger erklärt, der Bagger wäre seiner, wird er damit vor allem ausdrücken wollen, dass er jetzt ein Interesse an dem Bagger hat und jetzt damit spielen will.“
Sicher fallen Eltern nun viele Situationen ein, in denen schon beim Zweijährigen ganz genau zu erkennen war, wie deutlich er sich zum Besitzer irgendwelcher Gegenstände erklärt hat. Aber auch der Entwicklungspsychologe relativiert solche Beobachtungen. „Keine drei Monate vorher hat das Kind erst sein Ich im Spiegelbild entdeckt: Ich bin jemand eigenständiges und unterscheide mich von den Anderen“, macht Hartmut Kasten klar. „Dieses Ich hat allerdings noch keine klaren Grenzen. So kann das Kuscheltier durchaus noch als Teil der eigenen Persönlichkeit angesehen werden. Entsprechend existenziell wäre die Bedrohung, wenn sie das geliebte Kuscheltier mit jemandem teilen müssten. Das aber hat mit dem Eigentumsdenken von Erwachsenen wenig zu tun.“
Moderieren statt entscheiden
Um beim Beispiel Lieblingskuscheltier zu bleiben: Das muss ein Kind auch nicht teilen. Hier gilt das Prinzip der Vorbeugung. Kündigt sich Kinderbesuch an, können Eltern das Kuscheltier in „Sicherheit“ bringen. Die Zerreißprobe bleibt dem Nachwuchs so erspart. Aber es gibt noch genügend andere spannende Dinge, die der kleine Besucher in der Kinderecke entdecken wird. Verweigert ihr Kind die Herausgabe, schreiten sie nicht gleich ein. Denn grundsätzlich gilt, streiten heißt lernen. Haare ziehen und Beißen sollten natürlich nicht als Lösungsmöglichkeit gelernt werden, aber selbst da kann es Grenzfälle geben, die noch zu tolerieren wären, meint Hartmut Kasten. „Geschwisterkinder gehen manchmal ziemlich rabiat miteinander um. Und trotzdem entwickeln sie dabei eine ganz eigene faszinierende Streit- und Versöhnungskultur, mit der beide einverstanden sind.“ Dass diese Streitereien für die Erwachsenen ganz schön nervig sein können, gibt er gerne zu.
„Lösen“ Sie das Problem, indem Sie einem Kind das Spielzeug wegnehmen um es dem anderen zu geben, werden sie mit Sicherheit auch ein Kind frustrieren. Zudem hat der „Gewinner“ nicht gelernt, sich zu behaupten, geschweige denn, wie man verhandelt. Besser, Sie signalisieren beiden Kindern, dass Sie deren Bedürfnisse verstehen: „Du möchtest der Lotta noch das Hemdchen anziehen? Prima, dann friert sie nicht.“ Dem anderen Kind könnte der Vorschlag gefallen: „Du möchtest auch mal die Puppe halten? Sollen wir den Max mal fragen, ob er dir zeigt, wie schön er die Lotta angezogen hat?“ Indem Sie mal die eine, mal die andere Position übernehmen, spielen Sie einerseits beispielhaft eine Verhandlung vor, andererseits können die Kinder jederzeit das Geschehen mitgestalten und sich einbringen. Mit einem „Das hat er ja ganz toll gemacht“, wecken Sie vielleicht das Verlangen von Max, sein Werk zu zeigen. Natürlich können auch alle anderen Puppen und Tiere angeschaut werden, ob die denn frieren und eine Decke oder etwas zum Anziehen brauchen.
Zeit lassen und Zeit gewinnen
Nehmen sie Dampf aus der Situation, indem sie entschleunigen. Wer das Spielzeug zuerst hatte, war vielleicht einfach noch nicht fertig mit seinen Experimenten. Wie schwer gehen die Klettverschlüsse auf? Warum krieg ich die Schuhe nicht auf die Füße? Das alles muss untersucht werden und dafür braucht der kleine Mensch seine Zeit. Also fragen und kommentieren sie: „Na, hast du die Klettverschlüsse ganz alleine aufgekriegt? Willst du das noch mal probieren?“ So fühlt sich der Besitzer von Lotta verstanden und beim zuschauenden Kind wecken sie die Neugier, was als Nächstes passiert. Spielen Sie Reporter und erzählen Sie den Kindern, was Sie beobachten. Ein „Ob das bei der anderen Puppe auch so schwer geht..?“ kann neue Interessen wecken.
So nimmt mit der Dauer Ihrer Moderatorentätigkeit auch die Wahrscheinlichkeit zu, dass eines der Kinder andere geheimnisvolle Dinge entdeckt oder das Interesse an Lotta verliert. Das sollte aber nicht als billiges Ablenkungsmanöver verstanden werden. Zumal ja auch die Möglichkeit besteht, dass tatsächlich ein Kind dem anderen etwas freiwillig überlässt. Dann sollten Sie das aber sofort aufgreifen und loben. „Schau mal, der Max gibt dir die Lotta. Das ist aber lieb vom Max.“ Vielleicht fällt Ihnen ein Vorschlag ein, der ein gemeinsames Spielen ermöglicht. „Willst du die Lotta festhalten, dann kann der Max ihr besser die Schuhe anziehen?“ Teilen lernen, indem man eine Spielidee, eine Aufgabe aufteilt, hat meistens einen großen Lerneffekt. Selbst der Kampf um ein Stück Schokolade kann zum Aha-Erlebnis werden. Schlagen Sie vor, dass einer der Streithähne die Schokolade in zwei Teile brechen darf, der andere aber dann wählen darf, welches Stückchen er nimmt. Gerechtes Teilen wird so unmittelbar erlebt. Allerdings spielen Kinder zunächst die Regeln des Geben und Nehmens, ohne sie wirklich zu verstehen. „Erst ein Vier- oder Fünfjähriger kann sich in die Bedürfnisse eines anderen hineinversetzen und verstehen, dass der andere sich freuen wird, wenn ich etwas mit ihm teile“, erklärt Harmut Kasten.
Wenn gar nichts mehr geht
Aber nicht alles lässt sich teilen und selbst der phantasiereichste Vermittlungsversuch kann an der Dickschädeligkeit eines Dreijährigen scheitern, wenn dieser nicht bereit ist, wenigstens eine der Spielsachen herauszurücken. Dann bleibt Eltern nichts übrig, als einen der beiden Streithähne aus der Spielsituation herauszunehmen. Ist ein Kind ohne eigene Spielsachen zu Besuch, findet sich bestimmt ein Gegenstand aus der Küche, der spannend genug ist, genauer untersucht zu werden. Es ist schon erstaunlich, wie schnell dann selbst der Herrscher der Spielsachen seine Schätze als langweilig erachtet und wissen will, was es Spannendes nebenan zu entdecken gibt.
Liebesentzug ist tabu
Wenn du das machst, habe ich dich nicht mehr lieb. „Eine solche emotionale Erpressung ist pervers und darf grundsätzlich kein Mittel erzieherischen Handelns sein“, betont Kasten. „Dazu gehört aber mehr als nur der ausgesprochene Satz. Ein kleines Kind kann am Anfang nicht einmal zwischen Innenwelt und Außenwelt unterscheiden und übernimmt Stimmungen der Eltern eins zu eins. Das verärgerte oder zornige Gesicht, die lauten Stimmen von Mama und Papa signalisieren einen Liebesentzug, der sich als unmittelbare Bedrohung in die Seele einnistet.“ So müssen Eltern den Spagat üben, einerseits so lange wie möglich den Streit auszuhalten, anderseits im Moment des Eingreifens ihre Gelassenheit zu behalten.