Sex und Ehe zu (Ur-)Omas Zeiten
Wer heute etwas über Verhütung, Schwangerschaft oder Ehe wissen will, kann das problemlos aus dem Ratgeber seines Vertrauens erfahren. Wie sah das aber zu (Ur-)Omas Zeiten aus? Was wussten unsere Ahninnen? Gab es damals Aufklärungsbücher? Und was stand da so drin?
Wird man vom Küssen schwanger?
„Wir war’n ja blöde, wir wussten ja nüscht“, kommentierte meine Oma einmal mit einem verschämten Lachen die Zeit, als mein Großvater ihr den Hof machte und die Aktivitäten der Verliebten anfingen, über das sonntägliche Tanzvergnügen hinauszugehen. „Nach dem Küssen haben wir immer den Bauchumfang gemessen, um zu prüfen, dass wir nicht schwanger geworden sind.“ Die Aufklärung vom Pfarrer kurz vor Hochzeit kam dann ein bisschen spät: Unter Omas Brautkleid zeigte sich, dass sie mittlerweile selbst herausgefunden hatten, dass es für Babys mehr als Küsse braucht…
Anfang der 1950er Jahre war das, vor Oswald Kolle und vor Dr. Sommer. Dass meine Oma so sehr im Dunkeln tappte, hatte meine Urgroßmutter zu verantworten, die sich (und da war sie längst nicht die einzige Mutter) offensichtlich vor einer Tradition gedrückt hatte: „Wissen über Geschlechtsverkehr, Verhütung, Schwangerschaft und Geburt wurde bis nach dem zweiten Weltkrieg vornehmlich von den Frauen der Familie mündlich überliefert“, so die Medizinethnologin Dr. Edith Wolber vom Deutschen HebammenVerband. „Dabei gaben die Frauen natürlich keine wissenschaftlich fundierten Fakten, sondern Erfahrungswissen weiter, nicht selten durchmischt mit Aberglauben.“ Manches davon ist auch heute noch nicht völlig in Vergessenheit geraten – wie zum Beispiel die Annahme, dass man in der Stillzeit nicht schwanger werden kann. „Noch im 19. Jahrhundert war das womöglich gar nicht mal so falsch“, meint Dr. Wolber zu dieser langlebigen Überlieferung. „Frauen waren oft mangel- oder unterernährt, Schwangerschaft, Geburt und das Stillen zehrten sehr an ihnen. Vermutlich hatte der Körper bei all dem Stress keine Kraft für eine zusätzliche Schwangerschaft, und so sind Frauen in der Stillzeit wahrscheinlich tatsächlich nicht so schnell schwanger geworden.“
Bringt der Klapperstorch die Babys?
Allerdings, so Dr. Wolber: „Was Wissen anging, war die Gesellschaft damals nicht homogen.“ Während heute so ziemlich jeder schon allein über das Internet grundsätzlich die Chance hat, die gleichen Informationen zu erhalten und sich Wissen viel weiter und breiter verteilt, lebte man damals in Stadt und Land in sehr verschiedenen Welten. Als Ende des 19. Jahrhunderts das Fachgebiet Gynäkologie entstand, es Lehrbücher dazu gab, auch Hebammen zunehmend besser ausgebildet wurden und bereits Aufklärungsratgeber erschienen, ging das an einem Großteil der Bevölkerung mehr oder weniger vorbei, sagt die Medizinethnologin, „weil Buchwissen in der Regel dem gehobenen Bürgertum vorbehalten war. Die bäuerliche Gesellschaft war des Lesens meist nicht kundig.“ Dafür lebte man hier noch im Einklang mit der Natur, und die Kinder konnten, auch wenn man mit ihnen nicht unbedingt offen über solche Dinge sprach, zumindest bei den Haustieren beobachten, dass die Legende vom Klapperstorch wohl irgendwie hakte
Dass der gefiederte Babybringer hingegen beim Bürgertum in den Städten lange sehr populär war, hatte vor allem mit Scham zu tun und dem Ideal, dass Mädchen körperlich wie seelisch vollkommen unschuldig in die Ehe gehen sollten. Ihre Erziehung übernahmen, wenn man es sich leisten konnte, Gouvernanten, die Ausbildung bestand in etwas Lesen, Schreiben, Religion, Tanzen, sich herausputzen, vielleicht noch dem Erlernen der Haushaltsführung. Nicht zuletzt kamen dafür in dieser Zeit auch die Puppenspiele in Mode. Nützlich und elegant zu sein waren die Hauptaufgaben einer Frau, Gehorsam und stets die Haltung zu bewahren die größten Pflichten, zu heiraten und den Mann glücklich zu machen oberstes Ziel. Trotzdem wurden die Mädchen selbst in der Pubertät meist nicht aufgeklärt und durch ihre erste Blutung, auf die sie durch nichts und niemanden vorbereitet waren, höchst erschüttert – ganz zu schweigen von der Hochzeitsnacht, nach der die junge Braut manchmal voller Schrecken wieder zurück ins elterliche Haus flüchtete.
Vollwertige Gattinnen und vollkommene Ehen
Wie soll bei einem solchen Start eine glückliche Ehe gelingen? kritisierte dazu ab 1879 ein Dr. Karl Weißbrod in seinem „Hochzeitsbrevier für Brautleute und Vermählte“. Mit dieser Schrift, die „Gattenpflichten christlich und ärztlich“ und noch dazu „nach dem neuesten wissenschaftlichen Standpunkte“ beleuchten sollte, wollte er Abhilfe schaffen. Sittsamkeit stand dabei allerdings auch für Weißbrod an oberster Stelle, und so referierte er ganz im Sinne des christlich-konservativen Zeitgeistes inbrünstig von „Der Heiligkeit des Ehebettes“ und der Bedeutung des göttlichen „Seid fruchtbar und mehret Euch“. Damit seine Schäfchen den zwecks Arterhaltung gottgewollten Geschlechtstrieb nicht zur sündhaften „Leidenschaft und unersättlichen Begierde“ entwickelten, bemühte sich der Arzt um möglichst genaue Anleitungen: So stellte er im Kapitel „Vom richtigen Maßhalten im Ehebette“ klar, dass stets der Mann, niemals die Frau festlege, wann der Beischlaf auszuüben sei – zum einen, weil Gott das so wolle, zum anderen aber auch, weil „infolge der Überreizung des Gehirns und Rückenmarkes bei allzu häufiger Begattung“ dem Mann ernste gesundheitliche Schäden drohten. Die Frau solle sich ihrem Gatten hingegen möglichst immer ohne Zier hingegeben, sobald dieser danach verlange – um Gottes Willen aber nicht direkt zweimal hintereinander, denn das wäre für ihn „nervenmörderisch“. Junge Leute dürften zweimal in der Woche die Ehe vollziehen, nicht mehr ganz kräftige aller zwei Wochen und ältere Leute, wenn überhaupt, noch einmal im Monat.
Wer schwache Nerven hat und nach Aufregung schlecht einschlafe, solle lieber morgens statt abends miteinander schlafen – andere Zeiten sah Weißbrod grundsätzlich nicht dafür vor. Auch für das „Verhalten vor und nach dem Beischlafe“ machte der Arzt eindeutige Ansagen: Nach dem Essen, nach Bällen, Fußballspielen, Eisenbahnfahrten oder anderen Gemütsbewegungen hat Ruhe im Bett zu herrschen. Letzteres gilt auch nach vollzogenem Beischlafe, damit der Mann seine Nerven schonen kann, während sich die Frau mit zusammengepressten Oberschenkeln um erfolgreiche Empfängnis bemüht. Immerhin: Bei aller frommen Züchtigkeit lag Weißbrod trotzdem am Herzen, dass sowohl Mann als auch Frau befriedigt dem Ehebett entstiegen. Denn aus ärztlicher Sicht konnte er nicht verantworten, dass sich aus „unvollkommenem“ Beischlaf so schlimme Konsequenzen wie Hypochondrie, eine Verhärtung der Hoden oder gar Geistesschwäche respektive Hysterie und Unfruchtbarkeit ergeben würden.
Die Aufklärung wird revolutioniert
Die Aufklärung gründlich modernisiert hat ab den 1920er Jahren der Niederländer Theodoor Henrik von de Velde. Er schrieb einen regelrechten Sexualkunde-Kanon darüber, wie vollkommene Ehen zu erreichen wären und welche ausschlaggebende Bedeutung die Erotik und ein glückliches Liebesleben dafür spielten. So war sein Buch „Die vollwertige Gattin. Anleitungen für die Frau und ihre Helfer“ kein Knigge für Abendgesellschaften mit perfekten Tischgedecken und einer funktionierenden Dienerschaft: Die „Vollwertigkeit“ der Gattin erwuchs hiernach aus ihrer souveränen Beherrschung der Beckenbodenmuskulatur, die ihr in vielen Situationen – vom Sex über die Geburt bis hin zur Vermeidung von Frauenkrankheiten – Vorteile bringen sollte. Auch wenn es aus heutiger Sicht erheiternd wirkt, dass er dabei sogar die Frage des „Soll man nackt oder im Trikot üben?“ erörtert und den Ratschlag, dass solche Übungen sich eher für den Einzelunterricht als in Klassen eignen, für notwendig hält, waren seine detaillierten Ausführungen damals doch revolutionär – und noch über viele Jahrzehnte gültig und weit verbreitet.
Kann man mit Cola verhüten?
Das Thema Verhütung war zu van de Veldes Zeiten noch mit großem Makel behaftet, wenn auch nicht mehr strafbar. Während Dr. Weißbrodt die Vermeidung einer Schwangerschaft gar nicht in Betracht zog (schließlich ging es ja um die Arterhaltung), äußerte 1921 ein Dr. Hans Serson in seinem „Die Verhütung der Schwangerschaft“ viel Verständnis dafür, dass sich Paare keinen unendlichen Kindersegen zumuten wollen und können. Dass das Buch als einzig absolut sichere Verhütungsmethode letztlich nur die Enthaltsamkeit nannte, mochte so manchen Leser der rund 100 Seiten allerdings reichlich ernüchtert haben. Für alle, die das nicht ernsthaft in Betracht ziehen wollten, konnte Serson maximal den Coitus interruptus oder die Verlagerung des Beischlafes in die unfruchtbaren Tage der Frau empfehlen, sofern man bereit war, dabei auf einen gewissen Glücksfaktor zu vertrauen. Scheidenschwämmchen, die den Samen einfach nur aufsaugen sollten, wären hingegen kommerzieller Humbug. Kondome waren Serson entweder zu dick, also schlecht für die Gefühle, oder, wie die damals üblichen Überzieher aus Fischblasen, nicht reißfest genug, um als sicher zu gelten. Auch Pessaren und Scheidenspülungen mit Kochsalz, Essig oder diversen Chemikalien sollte man besser misstrauen. Später, dokumentiert das „Museum für Verhütung und Schwangerschaftsabbruch“ (MUVS) in Wien, erhoffte man sich sogar von Cola-Spülungen verhütende Wirkung...
Auch heute weiß die Jugend längst nicht alles, was es zu wissen gibt
Inzwischen gab es die sexuelle Revolution und den Feminismus, gibt es die Pille, freizügiges Fernsehen und „Dr. Google“, Aufklärungsbücher schon für Kindergartenkinder und Eltern, die deutlich mehr über Sex und Verhütung wissen als Mythen. Trotzdem stellen Studien – und Frauenärzte in ihrem Alltag – immer wieder fest, dass viele Jugendliche erstaunlich wenige Fakten zum Thema kennen. So lebt „Aufpassen“ weiterhin als gute Verhütungsmethode in Teenagerhirnen fort, ebenso wie die Annahme, dass Mädchen nicht gleich beim ersten Mal schwanger werden können. Für nicht wenige Kinder besteht eine beängstigende Diskrepanz zwischen dem, was sie in den Medien zu Sex und Liebe vermittelt bekommen und dem, was sie selbst sich davon erhoffen. Bei allen frei verfügbaren Informationen und scheinbar höchst abgeklärter Gespräche auf dem Pausenhof sind deshalb immer noch die Eltern gefragt, ihre Kinder sensibel aufzuklären, und das ist mit einem „Lies mal das Buch da“ nicht getan. Auch wenn Kaffee- oder Handarbeitskränzchen zu diesem Zweck natürlich längst ausgedient haben: Um die mündliche Tradition sollte sich auch im 21. Jahrhundert keine Mutter und kein Vater drücken.
Zum Weiterlesen
• Dr. Karl Weißbrodt: Die eheliche Pflicht. Ein ärztlicher Führer aus Uromas Zeiten. Heel. 2011 (Reprint). ISBN-13: 978-3898804837. 6,95 Euro.
• Esther Schoonbrood und Barbara Dobrick: Erklär mir die Liebe. Gefühle, Körper, Sex - Worüber Frauen mit Mädchen sprechen sollten. Goldmann. 2011. ISBN-13: 978-3442172009. 8,99 Euro.
Im Netz
• www.muvs.org (Museum für Verhütung und Schwangerschaftsabbruch)
• www.bzga.de (Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung stellt viel Infomaterial für Sexualaufklärung zur Verfügung)