Guter Sex, trotz dauerhafter Liebe
Verlischt in einer dauerhaften Partnerschaft zwangsläufig das erotische Feuer? Was bedeutet es für die Liebe, wenn die Sexualität eingeschlafen ist? Und kommt man da wieder raus? Antworten geben die ganzheitlichen Paarberater Claudia und Raimund Hargesheimer in unserem urbia-Interview.
Erotik in langen Beziehungen: Guter Sex trotz Liebe!
Wenn ein Paar längere Zeit zusammen ist, erlischt die erotische Leidenschaft. Ist dies der unvermeidliche Gang der Dinge?
R. Hargesheimer: Erotik und Leidenschaft sind immer da, immer anwesend. Sie können aus diesem Grund niemals erlöschen. Was erlischt, ist das Bild mit den emotionalen Vorstellungen über den Partner/die Partnerin. Auf einmal erscheint uns der Partner sexuell nicht mehr so anziehend. Dabei ist der Partner/die Partnerin der/die gleiche wie vor einem halben Jahr, was sich ändert, sind die Sichtweisen und Beurteilungen. Der eigene Blick wird, in der Phase der Grenzklärung wie wir sagen, klarer und erkennt auch die Schattenseiten.
C. Hargesheimer: Ja, wenn Paare beginnen, ihre Beziehung als Feld mit der Möglichkeit zum Wachstum zu sehen, verändert sich auch die Sexualität.
Die rosarote Verliebtheitsphase, in der alles stimmt, verlassen wir ja alle irgendwann und dann ist es spannend, ob Paare die nächste Entwicklungsphase in der Sexuellen Beziehungsreise kreativ und lustvoll gestalten können. In Beziehungen, die länger dauern, sind Veränderungsprozesse mit „gebucht“.
Ist es einfach das allzu Bekannte, das der Sexualität den Reiz nimmt?
R. Hargesheimer: Nein und Ja! Das zuerst Unbekannte in einer Ehe/Beziehung wird auf Dauer zu etwas Bekannten, was bewusst wieder zu einem etwas Unbekannten gestaltet werden kann.
C. Hargesheimer: Wir halten es für möglich, dass Menschen auch mit dem eigenen, langjährigen Partner/der Partnerin zu neuen Ufern aufbrechen. Dies kann z.B. nach der Geburt eines Kindes ein wichtiger Schritt sein. Für Frauen kann dies bedeuteten, den eigenen Körper neu zu entdecken, sich erneut als Geliebte zu erleben und neu zu definieren.
R. Hargesheimer: So könnten sich Paare in einer Paar- oder Sexualberatung das Bekannte in seiner Tiefenstruktur anschauen. Dies bringt manchmal erstaunliche Erkenntnisse zum Vorschein. „Aha so bist du auch?“ Ein scheinbar „altbekannter“ Körper wird neu entdeckt. Das heißt auch, sich selbst und die eigene Wahrnehmungsfähigkeit neu entdecken. Dort liegen für Männer und Frauen Herausforderungen und Schätze verborgen.
Oder sind es andere Störer? Wie z.B. mangelnde Kommunikation?
C. Hargesheimer: Kommunikation spielt eine wesentliche Rolle in der Sexualität. Das beginnt mit dem Blickkontakt, der zur Intimität einladen kann. Offen über die eigenen Wünsche und Abneigungen sprechen zu dürfen, ist für viele Paare auch nach der „Sexuellen Revolution“ immer noch ein Novum. Wer hat schon gelernt, wertschätzend und in aller Offenheit über die eigenen sexuellen Bedürfnisse zu sprechen?
R. Hargesheimer: „Störer“ sind die Themen, die einen hohen emotionalen Inhalt besitzen. Störer sind oftmals Anstoß und Überbringer einer neuen sexuellen Bewusstheit in der Paarbeziehung. Kommuniziere, differenziere und höre die Disharmonien der Beziehung an. Lass dich davon berühren. Kommunikation ist der Anfang, Sichtweisen zweier Menschen bewusst zu erleben. Es entsteht Differenzierung: „Du bist anders als ich und das sehe ich jetzt. Das gefällt mir im Moment überhaupt nicht, denn ich fühle mich dabei einsam. Aber wir sind doch in einer Beziehung. Das tut mir erst mal weh. Das muss ich erst mal verkraften“. Störer sind emotionale Neuheiten, die das innere Gleichgewicht stören. Hier ist Ehrlichkeit in der Kommunikation notwendig.
Mit welchen sexuellen Problemen kommen (Langzeit-)Paare zu Ihnen?
C. Hargesheimer: Es gibt sich wiederholende Themen wie sexuelle Lustlosigkeit (einer oder auch beide Partner leiden), Erektionsstörungen, unterschiedliche Appetenz, die Frage nach der Normalität, Häufigkeit, Dauer, „Techniken“ in der Sexualität, mein Partner geht fremd, was tun?, die Angst in der Sexualität zu versagen, Sexualität nach der Geburt von Kindern.
R. Hargesheimer: Männer leiden häufig unter einem aus verschiedenen Gründen gewachsenen Leistungsdruck in der Sexualität.
Ein Mann muss immer können und andere sexuelle Mythen
Auf welche Mythen stoßen Sie dabei?
C. Hargesheimer: Zum Beispiel der Mythos, die Sexualität diene der reinen Triebbefriedigung, ist weit verbreitet. Weitere Mythen sind: Penetration ist der einzige Weg zum Orgasmus, der Orgasmus von Frau und Mann muss gleichzeitig stattfinden, Männer wollen immer und nur das „Eine“, nur mit Penetration ist „richtige“ Sexualität möglich, Frauen dürfen nicht aktiv werden, eine Frau lässt sich erobern.
R. Hargesheimer: Folgende Mythen hören wir immer wieder von Männern: Ein potenter Mann will und kann immer! Der Mann muss sexuelle Leistung bringen. Ohne Erektion ist keine Sexualität möglich. Der Mann ist zuständig für den Orgasmus der Frau. Ich muss es meiner Frau „besorgen.“ Ein guter Liebhaber muss die Vorlieben seiner Frau erfühlen. Ein Nein in der Sexualität ist ein Verrat an der Liebe.
C. Hargesheimer: Weitverbreitet und folgenreich ist vor allem der Mythos, dass die Sexualität von Frauen und Männern unterschiedlich sei. Frauen seien passiv, Männer aktiv.
Welche Unterschiede zwischen Frauen und Männern stellen Sie bei dieser Problematik fest?
R. Hargesheimer: Männer stellen sich selbst in eine Leistungssituation, der sie dauerhaft nicht gewachsen sind. Das erzeugt einen inneren Druck, der wiederum die Erektionsfähigkeit beeinträchtigt. Aus diesem Kreislauf wieder auszusteigen ist ein erster wichtiger Schritt in eine neue Form der Sexualität.
Der Hormonhaushalt von Männern ändert sich im Alter und eine Erektion kann nicht immer Impulsgeber für den Beginn von Sexualität sein.
C. Hargesheimer: Das Thema Sexualität ist für Frauen und Männer auch heute noch häufig mit Scham und Tabus besetzt. Freudvolle Berührungen wurden nicht gelernt und der Orgasmus als Ziel der Sexualität, lässt einer freien Genussfähigkeit kaum Platz. Manche der Paare, die wir beraten, reagieren erstaunt auf die Frage, ob sie sich in der sexuellen Begegnung anschauen. Die Vielfalt der sexuellen Ausdrucksmöglichkeiten ist bei Frauen und Männern gleich gegeben.
Wenn Paare sexuell unzufrieden sind, kommt oft auch Untreue ins Spiel? Ein sinnvoller oder nur hinderlicher Lösungsansatz?
C. Hargesheimer: Ist ein Partner oder eine Partnerin untreu, so ist das ja zunächst der Bruch einer gemeinsamen Vereinbarung und wird oft als Verrat empfunden.
R. Hargesheimer: Untreue ist ja unterschiedlich motiviert. Den Männern möchte ich sagen: Du kannst dich fragen: „Was fehlt mir? Habe ich Bedürfnisse, die ich meinem Partner noch nicht mitgeteilt habe, weil ich die Bedürfnisse nicht kenne oder ich mich dafür schäme?“ Wir nennen das eine bedürfnisorientierte Kommunikationskultur.
Untreue ist ein Signal für beide. Beide können dann damit arbeiten, mit ihren Emotionen und Gedanken klarer zu werden. Es braucht den Mut, sich dem eigenen inneren Erleben zu stellen. Welche persönlichen Entwicklungsprozesse und emotionalen Zustände haben den Schritt in die Untreue ausgelöst und welche haben zur Untreue geführt? Aus diesem Klärungsprozess können Paare eine sich lösende Win- Win-Entwicklung gestalten.
C. Hargesheimer: Untreue, kann auch ein Ausdruck der Sehnsucht nach Veränderung und Wachstum sein. Untreue leitet immer einen Veränderungs- und im besten Falle einen Wachstumsprozess für beide Partner ein. Integralis Beraterinnen und Therapeuten schauen dann genau hin, was möchte sich in dieser Beziehung entfalten?
Somit birgt die Untreue neben der Gefahr der Trennung eben auch Wachstumspotenzial. Das ist allerdings nicht immer offensichtlich zu erkennen. Der Schmerz über den Betrug ist häufig groß und braucht einen geschützten Raum.
An einer Beziehung festhalten, wenn im Bett nichts mehr läuft?
Sexualprobleme wurden oft getrennt von Familien- und sonstigen Beziehungsproblemen behandelt, wie unterscheidet sich Ihr Ansatz?
C. Hargesheimer: Eine integrale Sexualberatung oder -therapie, legt den Fokus auf das Wachstumspotenzial, das in der aktuellen Situation für beide Partner liegen kann.
Wenn sich ein Problem in der Sexualität oder auf der Beziehungsebene äußert, dann sind wir mit der Integralis Methode in der Lage, auf verschiedenen Ebenen (Intellekt, Körper, Geist) auf das Anliegen und die Fragen der Paare zu antworten.
R. Hargesheimer: Hier hat in den vergangenen Jahren tatsächlich eine Annäherung der Fachdisziplinen stattgefunden. Systemische Therapie/Beratung und Sexualtherapie und Medizin kooperieren.
Was halten Sie vom Festhalten an einer Beziehung, in der sexuell nichts mehr läuft?
R. Hargesheimer: Beziehung und Sexualität gehören zusammen. Wenn in der Sexualität nichts mehr läuft, dann vertiefe dich in die Beziehung. Daraus können neue Früchte der Sexualität entstehen. Um eine langjährige Beziehung zu leben, braucht es Geduld und Frustrationstoleranz. Ebenso könnte es hilfreich sein, eine regelmäßige Bestandsaufnahme zu machen. Jedes Auto erhält eine regelmäßige Inspektion. Wo stehen wir jetzt. Was brauche ich, was brauchst du?
Überfordern wir Beziehung nicht, wenn wir jede Form des Glücks, also auch sexuelles Glück und dies dauerhaft, von ihr verlangen (man denke an den Begriff "resignative Reife")?
C. Hargesheimer: Ja, mit einer allgemeinen Forderung nach sexuellem Glück überfordern wir jede Beziehung. Glück will definiert sein. Ich würde auch eher von einer erfüllenden Sexualität sprechen. Was ist erfüllend? Wie oft, wie häufig in welcher Form, was liebt der Partner, die Partnerin? Gibt es eine Kultur der Berührung und Intimität?
R. Hargesheimer: Dem stimme ich zu und würde sagen, das sexuelle immerwährende Glück gibt es nicht. Was Menschen erlernen können, ist die Fähigkeit, sich in der Sexualität sowohl auf körperlicher als auch auf emotionaler Ebene auszutauschen und Intimität zu gestalten. Eine sexuelle Beziehung braucht keine „Supermänner“ und keine „Superwomen“, sondern empfindsame, starke, gebende und nehmende Menschen.
Gibt es etwas wie ein Grundrezept, also unverzichtbare Zutaten, für eine gelingende Sexualität?
R. Hargesheimer: Die Haltung einer spielerischen Achtsamkeit in der Liebe und Sexualität kann hilfreich sein. Weg von dem Gedanken, Sexualität sei eine Leistungs- oder Erfolgsplattform. Leichter geht es mit einer Portion Genussfähigkeit. Eine bedürfnisorientierte Kommunikation ist wichtig. Die Gestaltung einer Kultur der Langsamkeit. Sich Zeit nehmen und Zeit lassen, es gibt nichts zu erreichen, denn Sexualität braucht Reifung! Und wenn Paare das Ziel einen Orgasmus erreichen zu wollen verlassen, entsteht mehr Platz für Genuss.
C. Hargesheimer: Wenn Paare die Sexualität als ein gemeinsames Feld der Reifung betrachten, ist das wie mit einem guten Wein, der mit den Jahren an Qualität zunimmt. Regelmäßige Wunschrituale können die Sexualität wach und lebendig halten.
Zu den Personen:
Claudia Hargesheimer ist Gründerin von Integralis Saarlorlux, Institut für Persönlichkeitsbildung in Saarbrücken und Luxemburg. Ihre Beratungs- und Coaching- Schwerpunkte sind im persönlichen Feld: Beziehung und Sexualität, im beruflichen Feld: Beruf und Berufung, work-life balance, soziale Kompetenz, Frauen und Beruflicher Erfolg. Ihr besonderes Anliegen sind Wachstumsräume für Frauen
Raimund Hargesheimer arbeitet freiberuflich als Heilpraktiker, systemischer Therapeut/ Familientherapeut, IntegralisÒ Therapeut und Coach in Saarbrücken. Seine Schwerpunkte sind: im privaten Feld: Gesundheit und Psychosomatik, Familie und System, Männer und Sexualität, Emotion und Kraft. Im beruflichen Feld: Personal-Coaching, Kampf-Meditation und Persönlichkeitsentwicklung