So kommen kleine "Flummis" zur Ruhe

Entspannung für Kinder

Mit Reizüberflutung, Leistungsdruck und Freizeitstress macht der moderne Alltag schon Kindern zu schaffen. Viele leiden unter Nervosität und Schlafproblemen. Kindgerechte Entspannungsübungen bringen kleine Unruhegeister wieder ins Gleichgewicht – wenn Eltern auch ein gelassenes Umfeld schaffen können.

Autor: Kathrin Wittwer

Stressig: ein Leben im "Flummi-Modus"

Kind Mutter Entspannung
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Sind Kinder oft unruhig und ungeduldig, nennt man das im besten Falle lebhaft, im schlechtesten hyperaktiv. Zunehmend viele kleine Hummeln sind aber weder „nur“ agil noch echte „Zappelphilippe“. Ihre Ruhelosigkeit und Konzentrationsprobleme resultieren nach Meinung zahlreicher Kinderexperten vor allem aus den modernen Lebensumständen: Hektik und Effizienz, Technik und Produktivität, Leistungsdruck und mediale Reizüberflutung bestimmen unseren Alltag, auch den der Kinder, schon im KiGa und erst recht in der Schule. Selbst ihre Freizeit ist von Terminen und dem ständigen Blick zur Uhr gekennzeichnet. Im Nachwuchs wuselt es da genauso durcheinander wie um ihn herum. Die vielen anregenden Impulse sorgen dafür, dass ständig der Sympathikus Dienst hat, der Teil des menschlichen Nervensystems, der Blutdruck und Herz antreibt, um uns für Aktivität und Leistung auf Trab zu bringen. Die Kids, auf Daueraction und Abwechslung gepolt, schalten permanent in den „Flummi-Modus“. Derartig gestresst und unter Strom merken sie kaum noch, wann sie eine Pause brauchen und können die innere Erregung schließlich auch nicht mehr regulieren. Stillsitzen, aufmerksam sein und einschlafen fallen immer schwerer.

Warum ist Entspannung wichtig?

Dafür muss im Nervensystem erst der Parasympathikus das Zepter übernehmen dürfen: Der „Ruhenerv“ sorgt für ruhigere Atmung, regelmäßigeren Herzschlag und lockere Muskeln – also für Entspannung. Die ist entscheidend für unsere Gesundheit, denn nur in diesem Zustand des „inneren Friedens“ können sich Körper, Geist und Seele so richtig regenerieren. Entspannung stärkt die Fähigkeit, sich auf einzelne Wahrnehmungen zu konzentrieren und lässt Raum, um Gefühlen und Gedanken nachzugehen und sich wortwörtlich zu besinnen. Das hat viele positive Wechselwirkungen: Wer sich selbst gut spürt und kennt, den werfen äußere Reize nicht so leicht aus der Bahn. Wer sich entspannen kann, ist ausgeglichener und optimistischer. Wer sich besser konzentrieren kann, ist kreativer und lernt leichter.

Was hilft Kindern, besser zu entspannen?

Mit Entspannungstechniken – bestimmten körperlichen und geistigen Übungen sowie Formeln – lässt sich der Ruhenerv stimulieren und eine effektive Entspannung gezielt herbeiführen. Kinder und Jugendliche, die auf diese Weise lernen, ihre eigenen Bedürfnisse bewusst zu erspüren und sich vor einem Zuviel an Impulsen zu schützen, können besser mit Stress und Herausforderungen umgehen. Das ist für alle Kinder sinnvoll, sei es vorbeugend – vor allem für diejenigen mit einem höheren Risiko für Hyperaktivität, z.B. wenn in der Familie bereits Fälle vorkamen oder das Kind ein Schreibaby war – oder als Hilfsangebot, wenn Kinder unter übermäßiger Unruhe und ihren Folgeerscheinungen offensichtlich leiden. Allerdings, warnt die Kinderpsychologin Prof. Dr. Ulrike Petermann in ihrem Fantasiereisen-Klassiker „Die Kapitän-Nemo-Geschichten“, gibt es auch Kinder, bei denen Entspannungsübungen durch das ungewohnte Stillsein Ängste freisetzen oder eine noch stärkere Unruhe hervorrufen. Gerade bei hyperkinetischen Störungen muss deren genaue Ursache geklärt und sollten Verfahren erst behutsam getestet werden, rät Petermann. Vorsicht und Rücksprache mit einem Arzt seien zudem bei Erkrankungen von Magen-Darm und Herz-Kreislauf, bei Asthma, Epilepsie und bei Depressionen geboten.

Was sind die besten Entspannungstechniken für Kinder?

„Damit Kinder bei Entspannungsübungen gut mitmachen, muss man eine möglichst spielerische Herangehensweise finden und ihre Interessen berücksichtigen“, weiß Doris Stöhr-Mäschl, Entspannungstherapeutin und Fachbuchautorin aus Regensburg. Von bekannten Methoden für Erwachsene wie dem Yoga, dem Autogenen Training, der Progressiven Muskelentspannung und den Fünf Tibetern wurden deshalb kindgerechte Varianten entwickelt. Welche Technik man für ein Kind wählt, hängt von mehreren Faktoren ab: „Wichtig ist, dass das Verfahren altersgerecht ist, zu den individuellen Möglichkeiten des Kindes passt und am besten auch den Eltern gefällt. Dann ist die Motivation höher, es regelmäßig zu üben, und das ist die Voraussetzung dafür, dass es effektiv wirkt“, so Stöhr-Mäschl. „Klassische“ Entspannungsverfahren kann man etwa in der Kindergartenzeit einführen. „Ideal ist allerdings, wenn Eltern bereits ab dem Babyalter konsequent Entspannungen, zum Beispiel mit Babymassagen, einsetzen, weil die Kinder so ganz selbstverständlich da hineinwachsen“, empfiehlt die Expertin. „Überhaupt sind Kuschelzeiten immer schöne Entspannungsmomente, weil Nähe und Streicheln beruhigende Geborgenheit vermitteln.“

 

Ab Krippenalter: Rückenwahrnehmungsspiele

Über liebevolle Berührungen bauen auch Rückenwahrnehmungsspiele Spannungen ab. Hierbei erzählen Mama oder Papa mit den Fingern eine Geschichte auf dem Rücken ihrer Schätze, die vor ihnen bequem liegen oder sitzen. Die Kombination aus Berühren und Erzählen schärft den Hauttastsinn und damit die Wahrnehmungsfähigkeit, fördert Konzentration und Aufmerksamkeit und regt die Fantasie an, erklärt die Erzieherin Karin Schaffner, die solche Spiele in ihrem Buch „Auf deinem Rücken tut sich was“ für das Alter von 2 bis 8 Jahren vorstellt. Da tröpfeln Regentropfen sanft auf die Haut, rufen Urwaldtrommeln zum Fest, schlängeln Schlangen von oben nach unten, hüpfen Flöhe durcheinander, rattern Nähmaschinen, streichelt Dr. Pillemann die kranke Puppe wieder gesund und huschen Vampire und Gespenster hin und her. Eltern können es auch mit selbst ausgedachten Geschichten probieren, vielleicht mit Fingerspielen zu Lieblingsliedern, Gedichten oder Reimen ihres Kindes oder mit der Nacherzählung eines eigenen Erlebnisses. Die Spiele sind zwar in angenehmer Atmosphäre daheim am schönsten, lassen sich aber – ein großer Vorteil – überall und jederzeit einsetzen, wenn Kinder eine Ruhepause benötigen.

Ab Kindergartenalter: Yoga, Muskelentspannung und Fantasiereisen

„Echte Entspannung kann nur spürbar werden, wenn Kinder im Gegenzug auch viel Bewegung haben“, nennt Doris Stöhr-Mäschl ein Grundprinzip für einen gesunden Alltag wie auch für gute Übungsstunden. Ausgleichendes Pendeln zwischen den Gegensätzen führt Kinder immer wieder zu ihrer Mitte zurück und hält ihr körperliches und geistiges Gleichgewicht aufrecht, betont ebenso die Pädagogin Ursula Salbert in ihrem Buch „Ganzheitliche Entspannungstechniken für Kinder“. Ein solcher Wechsel zwischen Ruhe und Aktivität entsteht auch beim Yoga, an dem sich bereits Kindergartenkinder probieren können. Die mit Innehalten gepaarten Körperübungen kommen dem natürlichen kindlichen Bewegungsdrang sehr entgegen, sagt Salbert. Es macht den Kleinen Spaß, Baum, Sonne, Hase oder Schmetterling zu spielen, und die positiven Wirkungen der Haltungen – wie eine Lockerung der Rückenmuskeln, verbesserte Koordinations- und Konzentrationsfähigkeit und größere Gelenkigkeit – entfalten sich wie nebenbei. Bevor Eltern Yoga mit ihren Kindern beginnen, sollten sie alle Übungen erst selbst beherrschen, sie dann mit den Kindern einzeln spielerisch erpoben und schließlich alle für eine schöne Entspannungseinheit am besten in eine Geschichte kleiden. Salbert hat dafür beispielsweise „Kater Kuschel“ erfunden, mit dem Kinder sich durch einen spannenden Tag recken, schlecken, buckeln, Mäuse fangen und schließlich zufrieden einkuscheln.

Neben Yoga steht bei Kindern ab fünf Jahren die ebenfalls körperbetonte, unkomplizierte und sehr alltagstaugliche Progressive Muskelentspannung (PME) hoch im Kurs: Hierbei werden Muskeln kurzzeitig bewusst stark angespannt – zum Beispiel in den Schultern, indem diese zu den Ohren gezogen werden, in den Füßen, indem man die Zehen spreizt oder im Bauch durch Einziehen. Wird die Anspannung plötzlich gelöst, sind die Muskeln danach lockerer als vor der Übung. Diese deutliche Entspannung signalisiert dem Parasympathikus: Du kannst übernehmen. So kommen in Kettenreaktion auch Geist und Seele zur Ruhe. Für Kinder wird das Prinzip in Sätzen wie „Ich spanne meine Muskeln an, damit ich mich entspannen kann“ zusammengefasst. „Durch das Üben, am besten täglich, werden Kinder sensibler für ihre eigenen Befindlichkeiten“, erklärt Doris Stöhr-Mäschl. Sie erkennen ihre Grenzen besser und sind fähig, immer und überall selbst etwas gegen Nervosität und Anspannung zu tun. „Wie Yoga wird die PME auch von solchen Kindern gut angenommen, die mit Stillhalten sonst große Schwierigkeiten haben“, so die Enstpannungstherapeutin.

Einen guten Abschluss für alle Körperübungen bieten Traum- bzw. Fantasiereisen, eine kindgerechte Variante des Autogenen Trainings (AT): Während die Kinder bequem liegen oder sitzen und entweder die Augen zu haben oder auf einen bestimmten Punkt schauen, erzählt man mit ruhiger, weicher Stimme angenehm langsam eine fantasievolle Geschichte mit glücklichem Ausgang, in der das Kind eine zentrale Rolle spielt. Dabei werden die entspannenden Formeln das ATs (ruhig sein, schwer sein, warm sein…) eingebaut. „Wenn man es dabei schafft, die Gedankenwelt und Vorlieben der Kinder aufzunehmen, indem man zum Beispiel Erlebnisse aus dem letzten Urlaub nutzt, gehen sie gern auf eine solche innere Reise“, rät Stöhr-Mäschl. „Im Anschluss mögen Kinder gern über ihre Erfahrungen sprechen oder vielleicht Bilder dazu malen. Oder man nutzt Traumreisen als beruhigendes Einschlafritual, durch das Eltern ihr Kind in den Schlaf begleiten.“

Entspannungsübungen in der Schule: Autogenes Training

Ich bin ganz ruhig – schwer – warm – entspannt: Das sind Formeln, die, wie Ursula Salbert es nennt, „das Erleben von Entspannungsreaktionen im Körper beschreiben“. Durch konzentrierte Wiederholungen dieser Vorgaben wird der Körper dazu gebracht, tatsächlich ruhig, schwer, warm und entspannt zu sein. Etwa ab der 2. Klasse sind Kinder soweit, diese Formeln anzuwenden und eine Körperregion nach der anderen damit zu trainieren. Wie mit PME können Kinder mit Autogenem Training selbst für Entspannung sorgen, beispielweise vor Prüfungen oder um Schlafstörungen zu bewältigen.

Wie lernen Kinder zu entspannen?

Setz Dich mal hin, wir entspannen jetzt: So einfach ist das leider nicht, nicht für Erwachsene und schon gar nicht für Kinder, weiß Doris Stöhr-Mäschl: „Kinder müssen langsam und behutsam an regelmäßige Entspannungseinheiten herangeführt werden. Das geht nicht von heut auf morgen.“ Wie lang anfangs lang genug ist und was in einer Übungsphase alles gemacht werden kann, hängt unter anderem vom Alter der Kinder und ihrem Unruhegrad ab. Zum Erlernen einer Technik gibt es neben unendlich vielen Medien mit konkreten Anweisungen auch unendlich viele Kurse. Bei der Auswahl eines seriösen und passenden Angebots kann ein Anruf bei der Krankenkasse helfen: „Präventionskurse zur Stressbewältigung, zu denen Yoga und Co. zählen, werden von den gesetzlichen Kassen übernommen, allerdings erst ab einem Alter von 6 bis 8 Jahren. Dafür muss der Anbieter von der Kasse zertifiziert sein. Man kann also sicher sein, dass er seine Eignung nachgewiesen hat. Auch für Interventionskurse, begleitend zu psychotherapeutischen Verfahren, zahlen die Kassen dazu“, erklärt Doris Stöhr-Mäschl. Sie bietet in ihrer Praxis neben AT, PME und Fantasiereisen unter anderem auch Klangschalenmassage und Lerngymnastik an. Gerade für Einsteiger empfiehlt sie am liebsten Eltern-Kind-Kurse: „Es bringt nicht viel, wenn Eltern ihr Kind nur für eine Stunde hier lassen, nicht wissen, was gemacht wird und es dann daheim nicht richtig üben können. Außerdem schweißen die gemeinsamen Auszeiten zusammen, die Kinder finden es toll, dass Mama oder Papa in diesen Stunden nur für sie da sind.“ Dass auch die Erwachsenen dabei entspannen lernen, schafft zudem eine ganz entscheidende Voraussetzung dafür, dass die Kinder von den Techniken tatsächlich profitieren: Mama und Papa fällt es dann leichter, ein gutes Vorbild zu sein. „Denn“, gibt Stöhr-Mäschl zu bedenken, „wenn Eltern Stress und Hektik vorleben, immer nur hetzen und drängeln, immer Multitasking betreiben und nicht bei einer Sache bleiben, keine Pausen machen, obwohl sie erschöpft sind oder selbst nicht aufmerksam zuhören können, dann prägt sich das dem Kind als Normalität ein, und dann können auch Yoga und Autogenes Training nicht viel ausrichten.“

Die wichtigsten Tipps für entspannte Kinder im Überblick


  • Als Eltern Vorbild sein, bewusst auf mehr Ruhe im Alltag achten
  • Grundsätzlich Reize reduzieren, ob Medienkonsum, Spielzeugberge im Kinderzimmer, Angebote an Aktivitäten oder Verpflichtungen mit Terminen
  • Täglich auf einen ausgeglichenen Wechsel an Bewegung und Ruhe mit viel echter freier Zeit achten
  • Ein Gefühl dafür bekommen, wann Kinder eine Auszeit brauchen (werden unruhig, weinerlich, wirken erschöpft…) und ihnen die Pause ermöglichen statt sie mit neuen Impulsen zu füttern
  • Mit Entspannungsverfahren fürs Kind möglichst früh, am besten im Babyalter beginnen
  • Entspannungspausen – ob Körperübungen oder Kuschelzeiten – fest im Alltag verankern (z.B. als Rituale nach dem Heimkommen, vor den Hausaufgaben oder zum Einschlafen)
  • Übungen langsam und spielerisch, ohne Druck und Zwang einführen
  • Altersgerechte Methoden wählen, Interessen und Fähigkeiten berücksichtigen
  • Die Entspannungseinheiten stets erst nach einer Bewegungsphase (und nie direkt nach dem Essen) sanft einleiten, z.B. über Puzzle oder Wahrnehmungsspiele (Sanduhr beobachten, Geschmacks- oder Hörtests mit geschlossenen Augen…)
  • Immer dabei sein, unterstützen, im Zweifelsfall beruhigen, falls einmal Angstreaktionen (z.B. durch eine Fantasiereise) auftreten – und viel loben, auch und gerade am Anfang, wenn es noch nicht so gut klappt

Literatur- und Medienempfehlungen

Für Babys

  • Petra Neisari Tabrizi: Baby- & Kindermassage. DVD. ASIN: 3000231358. 17,99 Euro.

Ab 2 Jahre

  • Karin Schaffner: Auf deinem Rücken tut sich was...: Rückenwahrnehmungsspiele für Kinder im Alter von zwei bis acht Jahren. Pohl. 2009. ISBN-13: 978-3791102375. 8,80 Euro.

Ab 3 – 4 Jahre

  • Ursula Salbert: Ganzheitliche Entspannungstechniken für Kinder: Bewegungs- und Ruheübungen, Geschichten und Wahrnehmungsspiele aus dem Yoga, dem Autogenen Training und der Progressiven Muskelentspannung. Ökotopia. 2010. ISBN-13: 978-3936286908. 16,95 Euro.
  • Sabine Seyffert: Meine Insel der Stille. Entspannungsgeschichten für Zappelkinder. CD. Jumbo Neue Medien. 2004. ISBN-13: 978-3833710322. 12,99 Euro.
  • Ursula Karven: Sina und die Yoga-Katze. Rororo. 2008. ISBN-13: 978-3499214226. 6,95 Euro.

Ab 5 Jahre

  • Doris Stöhr-Mäschl: Ruhe tut gut! Fantasiereisen, Bewegungs- und Entspannungsübungen für Kinder. Verlag An der Ruhr. 2008. ISBN-13: 978-3834604200. 16,80 Euro.

 

Im Netz

  • www.batev.de (Bundesverband für Autogenes Training und Entspannungstherapie)