Dürfen wir vor unseren Kindern streiten?
Auch in den glücklichsten Beziehungen kommt es von Zeit zu Zeit zu Spannungen oder einem handfesten Streit. Was aber, wenn Kinder in der Nähe sind? Dürfen Eltern vor ihnen streiten? Oder sind Kinder damit überfordert?
Eltern streiten: Schadet das den Kindern?
„Ja-!“ „Nein-!“ „Wer ist schuld?“ „Du!“ „Himmeldonnerwetter, lass mich in Ruh!“ So beginnt das Gedicht Ehekrach von Kurt Tucholsky, dessen Verse vielen Paaren beunruhigend bekannt vorkommen dürften. Dass es zwischen Mann und Frau mal kracht, ist aber offenbar so unvermeidlich wie gelegentliche Gewitter im Sommer. Nicht ganz so einfach ist die Sache jedoch, sobald ein Paar Kinder hat. Viele Eltern sind unsicher, ob sie vor den Kindern streiten dürfen. Heftiger Streit zwischen den Eltern kann Kinder zwar tatsächlich sehr verunsichern. Deshalb nun aber nie in ihrem Beisein zu streiten, ist ebenfalls nicht der richtige Weg. Denn für Kinder kann ein fairer Streit durchaus lehrreich sein. Wie aber können Eltern so streiten, dass Kinderseelen nicht erschüttert werden und der Nachwuchs dabei sogar etwas lernt? Und was tun, wenn der Streit doch eskaliert ist, oder es schlicht zu oft kracht?
Ungebremste Wut bringt Kinderwelt ins Wanken
Streit ist nicht gleich Streit. Es gibt Streit, der sich an Sachfragen entzündet (Uneinigkeit bei der Erziehung, Verteilung der Alltagsaufgaben), und tiefer gehenden Streit, bei dem es unterschwellig auch um die Paarbeziehung geht und darum, wer „Sieger“ ist und wer „Recht“ hat. Letzterer kann sich verheerend auf Kinderseelen auswirken, vor allem, wenn Mutter und Vater sich dabei anschreien, mit Schimpfworten belegen und gegenseitig herabwürdigen: "Für ein Kind gehört ein solcher Streit zu den schlimmsten Katastrophen", warnt Diplom-Psychologe Andreas Engel. "Seine gesamte Welt, in der es sich geborgen fühlen sollte, wird bedroht". Es fürchte die Trennung der Eltern und damit den Verlust der Menschen, die ihm am meisten bedeuten. „Außerdem kann es seine Eltern nicht verstehen, wenn diese sich plötzlich völlig anders verhalten als sonst – wenn sie irrational reagieren oder gar gewalttätig werden. Damit sind auch Schreien, Beleidigungen und Türenknallen gemeint.“ Ein solches Verhalten mache Kindern Angst. Außerdem suchten sie oft die Schuld unbewusst bei sich, so Engel, Mitglied der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (bke), in einem TV-Interview.
Kinder lernen Streitkultur am „lebenden Objekt“
Viele Eltern sind daher verunsichert, ob sie überhaupt vor den Kindern zanken dürfen: „Ich bin hin- und hergerissen, ob, wie und worüber man denn im Beisein der Kinder streiten darf“, berichtet auch Marion Mantschuk* (36), Mutter von zwei Mädchen (3 und 1,5 Jahre). Anlass für ihre Verunsicherung war ein Streit zwischen ihr und ihrem Mann darüber, wer am Wochenende die Kinder hüten sollte. „Ich bin schwanger und war an diesem Tag auch noch krank, ich wollte mich deshalb gern etwas hinlegen. Mein Mann aber hatte geplant, noch am Schreibtisch zu arbeiten.“ Beide hatten trotz des Konflikts aber nicht vergessen, dass die ältere Tochter zuschaute. „Ich habe zuerst zu Margareta gesagt: ‚Ich muss jetzt mal mit dem Papa streiten!’. So wusste sie, dass der Krach nichts mit ihr zu tun hatte“, erzählt Marion. „Und hinterher, als wir uns geeinigt hatten, haben wir uns umarmt. Ich finde so eine Geste wichtig, damit Margareta sieht, dass wir uns wieder vertragen.“ Vor dem Schlafengehen hat die Dreijährige dann noch einige Male nach dem elterlichen Zank gefragt. „Beim Mittag- und Nachtschlaf besprechen wir immer, was bisher am Tag alles gewesen ist. Ich habe dann nochmal erklärt, dass der Papa arbeiten wollte, die Mama aber krank war und sich hinlegen wollte. Und dass auch sie ja manchmal wütend wird, wenn sie etwas anderes möchte als wir".
Ein solcher konstruktiver Streit kann für Kinder eine wichtige Erfahrung sein, denn: „Wenn ein Elternteil ständig nachgibt und seine Interessen zurückstellt, dann lernt das Kind keine Streitkultur kennen – spätere Konflikte sind vorprogrammiert“ betont Psychologe Andreas Engel. Ein Kind sollte also erleben, dass es wichtig und richtig ist, seine Meinungen und Interessen zu vertreten – notfalls auch gegen Widerstand. Dass man außerdem auch heftige Gefühle wie Enttäuschung und Frust mal äußern muss. Und dass man schließlich gemeinsam Lösungen finden kann, mit denen alle zufrieden sind. Dass ein Elternkrach solch eine Vorbildfunktion hat, funktioniert nur mit einigen Spielregeln:
- Das Kind nicht mit einbeziehen
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Sind Kinder Zeugen des Streits, müssen die Eltern ihnen sofort sagen, dass der Krach nichts mit ihnen zu tun hat. Kinder dürfen im Streit auch keine Funktion auferlegt bekommen. Sie sollten also nicht als Schiedsrichter angerufen werden („Du findest doch auch Quatsch, was der Papa sagt?!“) und nicht zu Kommentaren aufgefordert werden („Nun hör’ dir das an, die Mama spinnt doch, oder?“). Auch dürfen sie nicht als Mittel zur Erpressung oder Verletzung des anderen missbraucht werden („Ich gehe, und die Kinder siehst du dann nie wieder!“).
Streit, bei dem es direkt um die Kinder geht (Erziehung, Schulschwierigkeiten), sollte möglichst gar nicht vor ihnen ausgetragen werden. Denn hier sollten Eltern souverän auftreten und Einigkeit zeigen. Möchte man den Partner aber im Erziehungsalltag in einer bestimmten Situation rasch ausbremsen und kann nicht warten, sollte man dies nur knapp und ohne große Diskussionen tun: „Einmal drohte mein Mann Margareta damit, dass das Christkind nicht kommt, wenn sie das Inhalieren (wegen ihrer Bronchitis) verweigert. Das konnte ich so nicht stehen lassen. Ich habe aber andererseits nicht gewusst, ob ich ihn nun direkt vor dem Kind kritisieren sollte“, berichtet Marion. Sie löste und entschärfte die Situation, indem sie sagte: „Nein, der Papa hat natürlich nur Spaß gemacht!“, ohne ihn vor der Tochter verbal anzugreifen.
Auch Auseinandersetzungen, die das Liebesleben der Eltern betreffen, sind nicht für Kinderohren bestimmt. Ohrenzeuge von Eifersucht, Vorwürfen wegen eines angeblichen Flirts oder Seitensprungs oder auch von sexuellen Problemen zu werden, sind keine Bereicherung fürs Kind. Bis die Eltern allein sind, hilft hier der augenzwinkernde Rat Tucholskys im eingangs zitierten Gedicht: „Zeigt euch ein Kameradschaftsgesicht // und macht das Gesicht für den bösen Streit // lieber, wenn ihr allein seid“.
- Kühler Kopf statt kalter Wut
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Nicht nur wegen der Kinder gilt: Auch mit Wut im Bauch sollte man den Kopf niemals ganz abschalten. Eine Prise Selbstbeherrschung gehört dazu. Beschimpfungen wie „Du bist eine Null“, „Blöde Kuh“ und natürlich erst recht körperliche Attacken sind absolut tabu. Kinder lieben beide Eltern, eine Abwertung von Mama oder Papa ist für sie unerträglich. Streitbegrenzend wirkt es, beim konkreten Anlass zu bleiben und nicht alles auszugraben, was einem irgendwann aufgestoßen ist („immer“, „ständig“, „und überhaupt“). Wird die Wut zu groß, sind selbstbezogene Wutäußerungen („Ich könnte platzen!“, „Ich fass’ es nicht!“) immer noch besser als Verbalattacken gegen den anderen. Geht gar nichts mehr, sollte man lieber den „Kampfplatz“ verlassen, und sich später (am selben Tag) noch einmal mit kühlerem Kopf zusammenfinden. Auch hier sollte das Kind die folgende Versöhnung unbedingt miterleben.
- Auf eine Lösung hin streiten
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Streit ist kein Selbstzweck, um Dampf abzulassen. Es geht auch nicht um Sieger und Besiegte. Auseinandersetzungen sind nur dann für Kinder verträglich, wenn am Ende eine Lösung oder einen Kompromiss gefunden wird. Damit der Streit Sinn macht, müssen daher beide Partner bereit sein, über ihren Schatten zu springen und einen Schritt auf den anderen zuzugehen. Kinder müssen sehen, dass man hierdurch nicht das Gesicht verliert. Ist es aber immer derselbe, der nachgibt, bleibt ein übler Nachgeschmack, denn offenbar hat hier doch jemand „verloren“.
- Am Ende muss die Versöhnung stehen
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Am Ende jedes Krachs sollte immer eine sichtbare Versöhnung stehen, und zwar möglichst zeitnah – zum Beispiel bis spätestens vor dem Zubettgehen. Nur so kann das Kind den Streit als „halb so schlimm“ und als abgeschlossen wahrnehmen. Wichtig ist dabei nicht nur eine Aussöhnung mit Worten, sondern auch mit Gesten. Eine Umarmung zeigt dem Kind, dass alles wieder gut ist zwischen den Eltern. Anschließend kann man auch noch ausdrücklich sagen, dass die Eltern sich trotz des Streits gegenseitig lieb haben. Man kann den eigenen Streit auch mit dem Zank unter Kindern vergleichen und sagen: „Weißt du noch, wie wütend du neulich auf dein Geschwisterchen/deinen Freund warst? So ging es uns vorhin auch.“
Wenn der Streit doch eskaliert ist
Die Regeln fairen Streitens leuchten den meisten Eltern ein. Für manche Paare ist es jedoch schwierig, bei einem Streit beherrscht und sachlich zu bleiben. Wut oder Enttäuschung sind sehr starke Impulse. Und rascher als ihnen lieb ist werden die Kontrahenten laut, landen bei Schuldzuweisungen, Vorwürfen oder Schimpfworten, und das anwesende Kind rückt im Bewusstsein völlig in den Hintergrund. Wenn der Sturm abgeflaut ist, kommt die berechtigte Sorge auf, wie das Ganze denn wohl auf das Kind gewirkt hat. Wenn ein schlimmer Krach ein einmaliges Ereignis bleibt, werden die Wunden beim Kind mit der Zeit verheilen. Durch viel offen gezeigte Liebe und gegenseitigen Respekt beider Partner, sichtbare Zärtlichkeiten, eine beidseitige Entschuldigung sowie erklärende und kindgerechte Gespräche („Wenn du wütend bist, sagst du auch manchmal Sachen, die eigentlich so nicht stimmen, und die nicht so böse gemeint waren“) kann man die kindliche Welt allmählich wieder gerade rücken.
Achtung Krise! Wenn es zu oft kracht
Wenn es aber sehr häufig zu Streit kommt, oder dieser regelmäßig in gegenseitiges Anschreien und Beschimpfungen abrutscht, erleiden kindliche Zeugen seelischen Schaden, darin sind sich alle Fachleute einig. Kinder reagieren hier oft mit Problemen im Sozialverhalten (Unsicherheit, Rückzug, Aggression) oder mit Verhaltensstörungen (Haare ausreißen, Nägelkauen). Was „häufig“ in Bezug auf Streitereien heißt, kann man dabei nicht in Zahlen festlegen. Beide Partner sollten ehrlich zu sich sein „und ein Gespür dafür entwickeln, ob ihre Paarbeziehung noch in Ordnung ist“, so Diplom-Psychologe Engel. Manchmal ist professionelle Hilfe von außen notwendig. Ein unbeteiligter Berater kann verfahrene Streitmuster, schwelende Dauerkonflikte oder allzu versteinerte Haltungen wieder aufzulösen helfen. Geeignet ist eine Familien- oder Eheberatung (zum Beispiel bei Caritas, Diakonie oder der Stadt) oder eine Paartherapie. In Deutschland haben Eltern Anspruch auf eine kostenlose Familienberatung.
Manchmal hapert es aber gar nicht an der Liebe, wenn es oft kracht, sondern schlicht an der Verteilung der Lasten im Alltag: Wenn einer der Partner das Gefühl hat, mit der Versorgung der Kinder völlig allein dazustehen und kaum Entlastung hat, genügt nur ein Funke, um aus Enttäuschung, überreizter Müdigkeit und unterschwelliger Wut ein explosives Gemisch zu machen. Hier müssen Aufgaben und Rollen von beiden Elternteilen noch einmal neu überdacht werden (auch berufstätige Männer müssen Aufgaben bei der Kinderbetreuung wahrnehmen). Auch Entlastung von außen (Großeltern, abwechselnde Kinderbetreuung zwischen befreundeten Paaren, Tagesmutter, Putzhilfe) kann die Situation sehr entspannen.
Am Schluss gibt unser Dichter Paaren noch den lebensklugen Rat, über manches auch mal hinwegzusehen und nicht alles bis zum bitteren Ende auszufechten: „Gebt Ruhe, ihr Guten! Haltet still. // Jahre binden, auch wenn man nicht will. // Das ist schwer: ein Leben zu zwein. // Nur eins ist noch schwerer: einsam sein.“
* Alle Namen geändert
Weiterführende Infos
Onlineberatung für Eltern und Vermittlung an Familienberatungsstellen:
Bundeskonferenz für Erziehungsberatung
Zum Weiterlesen
Für Kinder:
Dagmar Geisler, Jana Frey: "Streiten gehört dazu, auch wenn man sich lieb hat" , ISBN 3473330957 (für Kinder im Kindergartenalter)
Erwin Grosche: "Achtung, Wutüberfall! Geschichten vom Streiten und Vertragen", Gabriel Verlag, ISBN 3522301064 (ab 6 Jahren).
Für Eltern:
Simone Pöhlmann, Angela Roethe: "Streiten will gelernt sein. Die kleine Schule der fairen Kommunikation" Herder Verlag, ISBN 345105454X
Rudi Rhode, Mona S. Meis, Ralf Bongartz: „Angriff ist die schlechteste Verteidigung. Der Weg zur kooperativen Konfliktbewältigung“, Verlag Junfermann, ISBN 387387542X