Tabu: Mama zieht aus
Sie sind noch in der Minderheit, aber es werden mehr: Mütter, deren Kinder nach der Trennung beim Vater bleiben. Obwohl es dafür meist gute Gründe gibt, haben „Wochenend-Mütter“ mit massiven gesellschaftlichen Vorurteilen zu kämpfen.
Aber die Kinder gehören doch zur Mutter
Dass die Kinder nun einmal zur Mutter gehören, ist ein Glaubenssatz, den die meisten Menschen nach wie vor unterschreiben würden. Dabei leben laut Statistischem Bundesamt immerhin in 15 von 100 Fällen die Kinder beim Vater. Und die Welt wandelt sich. „Es gibt immer mehr Väter, die sagen: Ich kann das genauso gut,“ sagt Ulric Ritzer-Sachs von der Online-Beratung der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung im urbia-Gespräch. „Und wenn das alle wollen, ist das auch völlig problemlos“. Zumindest, wäre es das, wenn nicht häufig Bekannte, Freunde und sogar engste Verwandte den getrennten Müttern mit Vorwürfen und offener Ablehnung begegnen würden.
Uns schadet die Bewertung von außen
So ging es zum Beispiel Tina (39). Die Mutter zweier Mädchen aus dem Raum München, die als Bilanzbuchhalterin tätig ist, lebt seit zweieinhalb Jahren vom Vater ihrer Töchter (heute 6 und 8 Jahre alt) getrennt. Obwohl sie und ihr Partner als Eltern an einem Strang ziehen und das Wohl der Kinder im Mittelpunkt steht, kam sogar von der engsten Familie Kritik. „Das war schwer, ich war ohnehin emotional so wund. Aber irgendwann war ich einfach sauwütend darüber, weil ich merkte: Wir vier kriegen das gut hin, aber uns schadet die Bewertung von außen.“ Aus dieser Wut heraus beginnt Tina, sich in ihrem Blog als Wochenend-Mutter zu outen und über das Thema zu schreiben. Und obwohl sie zunächst befürchtet, „jetzt richtig was einstecken zu müssen“, passiert das Gegenteil. Sie erhält hunderte dankbare Reaktionen mit dem Tenor: „Endlich schreibt einmal eine darüber, ich bin nicht allein, bin keine Außerirdische.“
Lies dazu auch ihren Gastbeitrag bei urbia mit dem Titel: Seid mutig! Das schafft viel Frieden
Alles andere eine Verschlechterung
Auch Jana* (32) sah sich nach der Trennung von ihrem Mann Anfeindungen ausgesetzt. Ihre Eltern verurteilten es, dass die Kinder beim Vater bleiben. Und „wenn man erzählt, die Kinder leben beim Papa, wird man erst einmal angestaunt und zwar vor allem von anderen Müttern, die sich das so gar nicht vorstellen können." Die Betriebswirtin aus dem Raum Frankfurt hat viele Freunde verloren in dieser Zeit, erzählt sie im urbia-Gespräch. Freunde, die sagten: „Wie kann die nur...".
Sorge um das Wohl der Kinder
Und dies, obwohl es zunächst alles andere als ihr Wunsch war, dass die Kinder nach der Trennung nicht bei ihr leben. Wie so häufig spielten bei dieser Entscheidung dann aber auch materielle Gründe eine Rolle, aber allem voran die Sorge um das Wohl der Kinder. Und der Wunsch des Vaters, sie bei sich zu behalten. Dem ging aber eine Übergangszeit voraus, in der das getrennte Paar das 50/50-Modell lebte. Jana war aus dem Familiendomizil ausgezogen, das ihrem Noch-Mann gehörte und hatte für sich und die Kinder ebenfalls ein Haus in der Nähe gemietet. Sie spürte aber, dass das Hin und Her ihren Söhnen (heute 5 und 7) nicht gut bekam und auch sie selbst sich alles andere als wohl fühlte.
Das schlechte Gewissen bleibt
Deshalb beschloss sie, zu ihrem neuen Partner 100 km weit weg zu ziehen. „Mein Mann sagte, du nimmst die Kinder auf keinen Fall mit." Durch eine Beraterin vom Jugendamt unterstützt, fand das Paar einen Kompromiss. Jana ließ die Kinder zunächst probeweise, inzwischen aber dauerhaft beim Vater, „weil alles Andere für die Kinder eine Verschlechterung bedeutet hätte: Sie hätten ihre vertraute Umgebung verlassen, den Kindergarten, die Oma ums Eck und hätten keinen Garten mehr gehabt. Und dazu eine Mama, die wenig Zeit hat, weil sie Vollzeit arbeitet und nachmittags niemand anders mehr einspringen kann."
Nun holt sie die Kinder alle zwei Wochen übers Wochenende zu sich und besucht sie zusätzlich an einem Wochentag unter der Woche. Um dies zu ermöglichen, hat sie sich sogar beruflich selbständig gemacht. Mit ihrer Lösung ist sie heute zufrieden, auch wenn sie sagt: „Das schlechte Gewissen kann man nie loswerden." Aber wie andere Wochenend-Mütter hat Jana bei dieser Entscheidung „die Kinder in den Vordergrund gestellt, ohne Rücksicht auf die eigenen Gefühle." Denn den Alltag mit ihren Kindern vermisst sie schmerzlich: „Das kommt alle paar Tage oder Wochen hoch, wo ich dann traurig bin oder weine." Besonders wenn sie sich nach ihrem Kinder-Wochenende wieder von den Söhnen verabschieden muss: „Der Montagmorgenfrust, wenn die Kinder wieder aus dem Haus sind, überall ihre Schlaf- und Spielsachen rumliegen und ich weiß, jetzt sind sie die ganze Woche nicht da."
Ihr könnt jederzeit mit mir gehen
Diesen Montagmorgenfrust teilt sie mit vielen anderen Wochenend-Müttern, mit denen sie über eine Online-Gruppe in Kontakt ist. Zu ihnen gehört auch Nicole (40) aus Freiburg, bei deren Trennung vom Vater ihrer Kinder ebenfalls ein Haus als Familienmittelpunkt eine große Rolle spielte. Auch beim Entscheidungsprozess, an dessen Ende die Kinder nun beim Vater leben. Die ersten Jahre nach ihrer Trennung im Jahr 2013 versuchte die zertifizierte Kräuterpädagogin und schamanisch Praktizierende mit aller Kraft, die Trennungsfolgen für ihre drei Kinder (heute 12, 15 und 17 Jahre alt) abzumildern und so wie vorher immer für sie da zu sein und zu sorgen. Sie suchte sich eine Wohnung in der Nähe, arbeitete in Teilzeit, besuchte die Abendschule und verbrachte die restliche Zeit bei ihren Kindern im gemeinsamen Haus, während ihr Ex-Mann im Schichtdienst war. Später zog sie zurück ins Haus und ihr Mann in die Außenwohnung, doch dieses Modell scheiterte schließlich am Geldmangel der dreifachen Mutter. Und irgendwann war sie mit ihrer Kraft am Ende: „Es ging nicht mehr. Ich war so kaputt, alles nur für die Kinder zu tun und für meinen Ex-Mann, dass alles bleibt und keiner leidet."
Sie lernt in dem ganzen Hin- und Her der Trennung, noch mehr auf ihr Herz zu hören. Und sie trifft einen neuen Mann. Im April 2017 wagt sie den Schritt, mit diesem neuen Partner zusammen zu ziehen, 350 Kilometer weit weg vom bisherigen Familienmittelpunkt. Ihren Kindern sagt sie: „Ihr könnt jederzeit mit mir gehen und bei mir leben, aber ich gehe." Die Kinder entscheiden sich, in ihrer gewohnten Umgebung zu bleiben. Beim Vater also und im Haus. Jedes zweite Wochenende, so der Plan, sollen sie zu ihr kommen. Nicht leicht zu realisieren mit Kindern, die schon so groß sind und ihre eigenen Pläne haben.
Du hast die Kinder verlassen
Es gibt Menschen, die den Kontakt zu ihr abgebrochen haben und die ihr – wie ihr Ex-Mann - vorwerfen: „Du hast die Kinder verlassen." Fast wie eine Hexenjagd, so empfindet sie das: „Die Frau hat einen solchen Riesen-Anspruch an Verpflichtungen zu bewältigen, wie es zu sein hat, und wenn man nicht in der Spur läuft, hat man echt Schwierigkeiten." Auch ihre Eltern taten sich anfangs schwer damit. „Doch inzwischen unterstützen sie jeden Schritt, den ich gehe", erzählt Nicole. Und es gibt auch andere, von denen sie positiv überrascht wurde und die sagten: „Ja, mach das" und „hätte ich doch auch den Mut gehabt".
Heute sagt sie: „Ich komme besser klar als ich gedacht habe." Aber auch: „Ich vermisse meine Kinder sehr, aber ich bin trotzdem zufrieden, weil ich merke, es entwickelt sich."
Mit den anderen Wochenend-Müttern aus der Online-Gruppe hat sie jedoch die Schuldgefühle gemeinsam: „Schuld, Schuld, das ist so ein Wahnsinn und es aushalten, nicht immer gemocht und geliebt zu sein."
Loslassen aus liebender Mütterlichkeit
„Tatsächlich kriegen die Väter, die sich um die Kinder kümmern, immer von der Gesellschaft viel Lob und Anerkennung, bei den Müttern heißt es eher: Warum sind die Kinder nicht bei dir? Das ist leider so klischeehaft immer noch da", sagt der Sozialpädagoge und Erziehungsberater Ulric Ritzer-Sachs.
Während Familien längst weiter sind, Paare gute Lösungen zum Wohl der Kinder suchen und sich natürlich dann auch manchmal dafür entscheiden, dass deren Hauptwohnsitz beim Vater ist, stellt sich die Umgebung oft quer. Da müssen sich Mütter den Vorwurf anhören, egoistisch gehandelt zu haben, obwohl sie genau das Gegenteil taten: Ihre eigenen Gefühle und Wünsche zurückstellen und ihre Kinder ein Stück weit loslassen, damit es diesen gut geht.
Mit Recht wünschen sich Mütter wie Jana mehr Einfühlungsvermögen von ihrer Umgebung. „Ich wünsche mir, dass andere es nicht gleich verurteilen, wenn eine Mutter das Kind beim Vater lässt - was ja auch ein Misstrauen dem eigenen Mann gegenüber ist." Und zum Schluss erzählt sie von der bekannten Szene aus Bert Brechts „Kaukasischem Kreidekreis". Dort streiten sich zwei um ein Kind. Der Richter stellt es in einen Kreidekreis und gibt den beiden auf, das Kind aus dem Kreis zu sich hin zu ziehen, damit er sehen könne, wer von ihnen die wahre Mutter sei. Die eine zerrt nicht an dem Kind, sondern lässt los, um es zu schonen. In ihr erkennt der Richter diejenige mit der wahren liebenden Mütterlichkeit.
* Name von der Redaktion geändert
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