Psychotherapien für Kinder und Jugendliche
Etwa 20 Prozent aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland leiden unter psychischen Problemen wie Aggressionen, Depressionen oder Essstörungen. Unser Artikel sagt, was Eltern bei Auffälligkeiten tun können, wann Kind und Familie professionelle Hilfe brauchen und stellt wichtige Therapien vor.
Wie kommt es zu seelischen Störungen?
Auffälliges Verhalten bei Kindern und Jugendlichen gehört in Deutschland fast zum Alltag: Gut jedes 5. Kind zwischen 7 und 17 Jahren leidet unter einer psychischen Störung, sagt der Berufsverband für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. Zu den häufigsten Problemen gehören AD(H)S und Aggressionen im Grundschulalter, Depressionen, Essstörungen, Alkoholmissbrauch und regelverletztendes Verhalten bei Jugendlichen. Sehr häufig treten Ängste wie Verlust-, Kontakt- oder Leistungsängste auf.
Die Ursachen dafür sind komplex. Zum einen begünstigen unter anderem die Gene, schwierige Bedingungen in der Schwangerschaft oder in der ersten Lebenszeit, dass ein Mensch für seelische Störungen leichter anfällig sein kann. Zum anderen kommt es auf diverse Einflussfaktoren an, ob sich aus dieser Anlage tatsächlich Auffälligkeiten – und in welcher Intensität – entwickeln. Mögliche Auslöser sind Traumata wie Unfälle oder Misshandlungen. Für Kinder bestehen höhere Risiken außerdem z.B. dann, wenn die Eltern selbst psychisch krank sind, wenn es viel Streit in der Familie oder Trennungen gibt. Auch die Überforderung und Orientierungslosigkeit von Kindern – und vieler Eltern – in unserer schnelllebigen Leistungsgesellschaft spielen eine Rolle.
Was ist eigentlich „normal“?
So dramatisch das klingt: Nicht jedes Kind, das ein scheinbar auffälliges Verhalten zeigt, benötigt gleich eine Therapie. „Alle Kinder sind irgendwann einmal auch Problemkinder und alle Familien haben Probleme zu bewältigen“, so die Psychologen Manfred Döpfner und Franz Petermann in ihrem Buch „Psychische Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen“. „Probleme sind keine Ausnahmen, sondern die Normalität.“ Die meisten seien so gelagert, dass sie mit Eltern, Freunden, vielleicht auch mit Erziehern und Lehrern aus der Welt zu schaffen seien. Allerdings wird Verhalten, das vermeintlich von der Norm abweicht, heute schneller als störend und damit als krankhaft empfunden: Was, wie gern angeführt wird, beim wilden, neugierigen und frechen Michel aus Lönneberga noch lustig war, fällt heute schon in die Kategorie ADHS, weil in einer Leistungsgesellschaft bereits Kinder reibungslos funktionieren sollten. Verständnis für ihre besonderen Bedürfnisse und für kindliches Verhalten geht dabei zunehmend verloren.
Gestört oder kreativ?
In ihrem Buch „Was auffällige Kinder uns sagen wollen“ stellen die Psychologen Gertraud Finger und Traudel Simon-Wundt außerdem fest: Kinder, die Sorgen machen, wollen umsorgt sein. In der Regel ginge es dem Kind darum, auf einen Misstand aufmerksam zu machen: „Kinder, die ihrer Umgebung Schwierigkeiten machen, haben selbst Schwierigkeiten.“ Wird ihr Verhalten als Störung oder gar Böswilligkeit bekämpft, gerät eine Familie in einen Teufelskreis. Gelingt es den Eltern jedoch, hinzuhören, hinzusehen und zu hinterfragen, was ihr Kind mit seinem Verhalten sagen will, lassen sich oft Auswege und ein neues Miteinander finden. Manche Fachleute sprechen deshalb von „Verhaltenskreativität“, da die Auffälligkeiten sinnvolle Veränderungsprozesse anstoßen. Aus elterlicher Sicht ist es also vor allem wichtig, das Kind nicht als „böse“ abzuurteilen, sondern der Sache auf den Grund zu gehen, ruhig zu bleiben, Verständnis zu zeigen, sich Zeit fürs Kind zu nehmen, seine Schwächen zu akzeptieren und Stärken zu fördern.
Wann ist es Zeit für eine Therapie?
Leidet ein Kind stark aber unter einem Problem und sind die Eltern überfordert, ist es sinnvoll, sich professionelle Hilfe zu suchen, raten Döpfner und Petermann. Beeinträchtigt das Problem das Familienleben, tritt es über einen längeren Zeitraum auf und zeigt sich auch außerhalb der Familie (z.B. in Kita oder Schule), sind das ebenfalls Anzeichen für einen Gang zum Therapeuten. Dann ist es wichtig, dass Eltern ihr Kind zum Mitmachen bei einer Therapie und zum Dabeibleiben motivieren. Sie können begleitend Hilfen wie Elterntrainings erhalten. In manchen Therapien für Kinder gehören Sitzungen für die Eltern sogar dazu.
Wie findet man die passende Therapie und den richtigen Therapeuten?
Therapiemethoden gibt es inzwischen fast wie Sand am Meer. Für einen Laien ist dieser Dschungel an sich teilweise nur in Details unterscheidenden Verfahren kaum durchschaubar und einschätzbar. Eltern sollten sich hierbei also unbedingt Rat holen, zum Beispiel beim Kinderarzt, der aus seiner Kenntnis über Kind und Familie passende Empfehlungen geben kann. Unterstützung bieten darüber hinaus Sozialpädiatrische Zentren (SPZ) sowie Erziehungs- und Familienberatungsstellen, die sogar selbst Therapeuten stellen können. Entscheidend für den Erfolg einer Therapie ist, dass Eltern und Kind dem Therapeuten vertrauen, dass die „Chemie stimmt“. Bei klassischen Therapien, die von zugelassenen Kinder- und Jugendlichen-PsychotherapeutInnen durchgeführt und von den Krankenkassen bezahlt werden, darf man dafür „probatorische Sitzungen“ in Anspruch nehmen: Kennenlernstunden, nach denen Patient und Therapeut entscheiden, ob sie zusammenarbeiten möchten.
Sechs Therapien für Kinder und Jugendliche
Der folgende Überblick stellt sechs Therapien für Kinder und Jugendliche vor, sowohl bewährte Methoden wie auch neuere Ansätze. Er zeigt, welche Ziele die jeweiligen Therapien verfolgen, wie diese erreicht werden sollen und bei welchen Störungen die einzelnen Methoden eingesetzt werden. Die meisten Therapien gibt es dabei allerdings nicht in der einen, unumstößlichen Form, sondern sie haben zahlreiche Ausläufer gebildet, die sich teilweise überschneiden oder in Kombination mit anderen Verfahren zum Einsatz kommen, sowohl in Einzel- als auch in Gruppentherapie, sowohl ambulant als auch stationär. Wie genau und wo die Behandlung stattfindet, wie lange und wie intensiv, hängt sehr individuell vom Kind und dem jeweiligen Störungsbild ab. Als Kassenleistungen gelten bislang nur die Verhaltenstherapie und die Tiefenpsychologisch fundierte Therapie.
1 – Verhaltenstherapie: Umlernen im Hier und Jetzt
Die Verhaltenstherapie arbeitet ganz konkret an aktuellen Problemen in der Gegenwart. Sie basiert auf der Überzeugung, dass wir Verhalten erlernen und damit auch wieder verlernen können. Ihr Ziel ist es, ungünstiges Verhalten, das krank macht oder Konflikte hervorruft, durch positive neue Muster zu ersetzen. Zum „Verhalten“ gehören dabei auch Gefühle und Denkprozesse. Der Therapeut hilft dem Kind zu erkennen, welches Verhalten problematisch ist, wodurch es ausgelöst wird und unter welchen Einflüssen es bestehen bleibt. In der Therapie sowie in „Hausaufgaben“ werden Alternativen erprobt und dann von den Kindern im Alltag umgesetzt. Viele Therapeuten nutzen ergänzend Entspannungsverfahren.
Die Verhaltenstherapie ist die am meisten eingesetzte und am besten untersuchte Methode bei Kindern. Sie hilft unter anderem bei Angststörungen, Depressionen, Psychosen und Essstörungen sowie vielen psychosomatischen Störungen.
Weitere Informationen bietet die Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie e.V. unter www.dgvt.de.
2 - Tiefenpsychologisch fundierte Therapie: Die Suche in der Vergangenheit
Hinter dem Begriff der Tiefenpsychologie verbergen sich zahlreiche Formen einer Therapie, die sich (wie z.B. die Psychoanalyse nach Freud) hauptsächlich mit negativen Erlebnissen in der (frühen) Kindheit beschäftigt. Sie geht davon aus, dass solche Erfahrungen das Verhalten unbewusst beeinflussen, z.B. in ähnlichen Situationen in der Gegenwart Konflikte auslösen, die man nicht bewältigen kann und die deshalb belasten und krankmachen. In Gesprächen hilft der Therapeut, solche Konflikte zu erkennen und sich an die ursächlichen Erfahrungen zu erinnern. Diese werden neu durchlebt und neu bewertet. Bei Kindern, die sich noch nicht klar zu ihren Problemen äußern können, kommen auch freies Zeichnen oder Spiele zum Einsatz, anhand derer der Therapeut Gefühle und Gedanken „ablesen“ kann.
Bei Kindern wird die Tiefenpsychologie unter anderem bei Angststörungen (Schulangst), bei Essstörungen, aggressivem Verhalten oder bei Depressionen angewendet.
Weitere Informationen finden sich z.B. unter www.neurologen-und-psychiater-im-netz.de.
3 – Spieltherapie: Liebevolle Hilfe zur Selbsthilfe
Die Spieltherapie gehört zu den sogenannten „humanistischen Ansätzen“, bei denen nicht die Krankheit, sondern die Selbstheilungskräfte eines Menschen im Vordergrund stehen. Diese sollen mit Hilfe des Therapeuten aktiviert werden. Die Spieltherapie basiert auf der Überzeugung, dass Kinder auffällig werden, wenn sie ihre Interessen nicht zufriedenstellend durchsetzen können. Ihre Bedürfnisse sollen sie im Spiel erkennen, darstellen und mit Lösungen experimentieren, die später im Alltag angewendet werden. Dafür muss der Therapeut einen Rahmen schaffen, in dem das Kind sich sicher fühlt und sich selbstständig den Herausforderungen des Lebens stellen kann. Geborgenheit, Respekt, Zuwendung und Wertschätzung sind deshalb grundlegend wichtig im Therapieprozess. Begleitend kommen Familientherapie oder eine Elternberatung zum Einsatz.
Spieltherapie hat sich bei Kindern u.a. bei Entwicklungsdefiziten, bei dem Zusammentreffen mehrerer Erkrankungen und bei seelischen Problemen mit unklaren Ursachen bewährt. Aspekte der Spieltherapie können auch im Rahmen von Tiefenpsychologie und Verhaltenstherapie angewendet werden.
4 – Systemische Familientherapie: Der Blick aufs Große und Ganze
Jeder Mensch lebt in vielfältigen Beziehungen mit anderen Menschen. Diese haben erheblichen Einfluss auf sein Denken und Verhalten und können dadurch Probleme (mit)bedingen. Familientherapeuten konzentrieren sich deshalb nicht nur auf das Kind, sondern sieht seine Auffälligkeit in erster Linie als Anzeiger für Probleme im Familiensystem, die es wieder in Ordnung zu bringen gilt. Aufgabe eines Familientherapeuten ist es demnach, die Ansichten aller Familienmitglieder zu hören, ihnen zu helfen, die Regeln und Verhaltensmuster ihres Systems zu erkennen, zu hinterfragen und neue, „gesündere“ Wege des Miteinanders zu finden. Statt nach Ursachen in der Vergangenheit zu suchen, wird primär an praktischen Lösungen für die Zukunft gearbeitet. Auch Ärzte oder Lehrer können hier einbezogen werden.
Die Systemische Familientherapie wird bei Kindern und Jugendlichen am häufigsten bei Drogenmissbrauch, Psychosen, Magersucht, Störungen des Sozialverhaltens und anderen psychosomatischen Erkrankungen eingesetzt.
Weitere Informationen bietet das Portal der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie unter www.familientherapie.org.
5 – Festhaltetherapie: Halt geben, Bindungen stärken
Bindung und Geborgenheit – also Halt haben – sind elementare menschliche Bedürfnisse. Bei „Haltlosigkeit“, so die Annahme von Festhaltetherapeuten, entstehen Ängste und Aggressionen, die die Bindung zwischen Eltern und Kind stören. Das soll durch Festhalten gelöst werden: Dabei halten Eltern ihr Kind liebevoll, aber bestimmt fest, während das Kind sich in dieser Umarmung ausschreien und austoben, Wut und Ängste herauslassen kann. Es soll erfahren, dass die Eltern es annehmen, wie es ist und mit konsequenter Liebe immer da sind („Wir halten Dich, egal was passiert“). Eine Festhaltesitzung ist beendet, wenn das Kind sich seinen Eltern wieder vertrauensvoll überlässt. Damit Festhalten gelingt, müssen die Eltern frei von negativen Gefühlen wie Angst, Aggressionen oder Ablehnung sein und die Kraft haben, bis zur Auflösung durchzuhalten – manchmal stundenlang.
Ursprünglich wurde die Festhaltetherapie zur Behandlung schwerer Störungen wie Autismus oder geistigen Behinderungen entwickelt. In Deutschland wurde sie vor allem durch die tschechische Psychologin Jirina Prekop bekannt, die sie auch bei gestörten Eltern-Kind-Beziehungen und bei aggressivem, ablehnendem Verhalten einsetzte.
Wissenschaftlich ist die Methode kaum untersucht. Während Befürworter die positiven Wirkungen eines liebevollen Gehaltenwerdens hervorheben, befürchten Kritiker, dass Kindern beim Festhalten Gewalt angetan wird. Das kann bei unsachgemäßer Anwendung geschehen. Das Festhalten sollte deshalb von Laien zunächst nur im Beisein eines geschulten Therapeuten durchgeführt werden, bis sie die nötige Sicherheit für gegebenenfalls notwendige weitere, unbeaufsichtigte Einsätze gewonnen haben.
Weitere Informationen bei der Gesellschaft zur Förderung des Festhaltens als Lebensform und Therapie e.V. unter www.prekop-festhalten.de.
6 – Familienstellen: Verstrickungen lösen
Familienstellen basiert auf der Annahme, dass großes Leid (z.B. Kindstod), schwere Schuld (z.B. Kriegsverbrechen) und Schicksale, die keine gute Auflösung finden (z.B. eine harte Kindheit durch den Verlust des Vaters), über lange Zeit Störungen im Familiensystem verursachen. Kinder können solche Probleme erspüren, nehmen sich ihrer unbewusst an und drücken die Störung durch Verhaltensauffälligkeiten aus. Für eine Besserung müssen die Verstrickungen mit fremdem Leid gelöst werden. Dafür werden in Aufstellungen – z.B. mit Stellvertretern oder mit Figuren – alle wichtigen Familienmitglieder, lebende wie verstorbene, in ihren Beziehungen zueinander betrachtet. Ziel ist es, über eine neue (räumliche) Ordnung jedem Mitglied dem ihm zustehenden, natürlichen Platz im System zu geben und jedem die Verantwortung für sein eigenes Schicksal zu übertragen. Dabei spielen auch heilende Sätze, die zum Beispiel Respekt voreinander ausdrücken, eine Rolle.
Jirina Prekop und Bert Hellinger, „Vater“ des Familienstellens in Deutschland, verweisen in einem gemeinsamen Buch auf gute Erfahrungen mit dieser Methode bei Kindern, für deren Auffälligkeiten die Schulmedizin keine Ursache findet. Das sind Probleme, die z.B. aus der „Entwurzelung“ bei Adoptionen oder durch Verlust eines Zwillingsgeschwisters im Mutterleib entstehen oder die in Familien mit sich wiederholenden Mustern wie häufigen Trennungen vorkommen können.
Wie das Festhalten ist Familienstellen umstritten. Seine Wirksamkeit bei der Heilung von Störungen wurde bislang nur wenig untersucht. Fakt ist aber, dass in einer Aufstellung in der Tat heftige Kräfte wirken können. Deshalb sollte die Methode nur unter Anleitung eines gut ausgebildeten, vertrauenswürdigen Therapeuten angewendet werden. Das ist gerade bei Kindern wichtig, da sie intuitiv und sensibel auf solche Vorgänge ansprechen können. Aufstellungen können in Einzel- oder Gruppenarbeit stattfinden. Sie werden häufig als Tages- oder Wochenendseminare angeboten. Eine weitere Begleitung des hier angestoßenen Prozesses ist sinnvoll.
Weitere Informationen und Hilfe bei der Suche nach einem geeigneten Therapeuten gibt u.a. die Deutsche Gesellschaft für Systemaufstellungen.
Zum Weiterlesen
- Gertraud Finger, Traudel Simon-Wundt: Was auffällige Kinder uns sagen wollen. Verhaltenauffälligkeiten neu deuten. Klett-Cotta. 2008. ISBN-13: 978-3608945270. 13 Euro.
- Manfred Döpfner, Franz Petermann: Psychische Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen. Informationen für Betroffene, Eltern, Lehrer und Erzieher. Hogrefe. 2008. ISBN-13: 978-3801722081. 8,95 Euro.
- Rita Rosner (Hrsg.): Psychotherapieführer Kinder und Jugendliche. Seelische Störungen und ihre Behandlung. Beck. 2006. ISBN 978-3-406-54106-3. 18,90 Euro.
- Jirina Prekop, Bert Hellinger: Wenn Ihr wüsstet, wie ich Euch liebe. Kindern helfen durch Festhaltetherapie und Familienstellen. Droemer/Knaur. 2010. ISBN-13: 978-3426874875. 8,95 Euro.