Warum lieben Mädchen Rosa?
urbia-Autorin Kathrin Wittwer war nie ein Fan der Farbe Rosa, weder als Mädchen noch heute als Mutter. Ihre dreijährige Tochter hat dazu eine ganz andere Meinung. Und so kam der Tag, an dem diese sich erstmals von Kopf bis Fuß in fröhliches Pink kleidete und ihre Mutter damit vor die große Sinnfrage stellte: Warum nur stehen Mädchen so auf Rosa?
Die Farbe Pink: Widerstand zwecklos
Rosa trat exakt 24 Stunden nach der Geburt meiner Tochter in unser Leben: in Form eines Plüschanzugs in Schweinchenrosa, verziert mit pinken und lila Herzen. Glücklicherweise war das Teil vier Nummern zu groß, passte erst im nächsten Sommer und konnte angesichts tropischer Temperaturen im Schrank vergraben bleiben. Aber der Kampf gegen den Einzug der Prinzessinnenfarbe in meinen Haushalt war offiziell eröffnet. Während ich damals noch naiv glaubte, meine Tochter durch Farbalternativen geschmackvoll konditionieren zu können, musste ich jetzt lernen: Widerstand gegen die allgegenwärtigen Konsumanregungen, Mädchen in jedem Lebensbereich mit rosa Sachen einzudecken, ist fast zwangsläufig zum Scheitern verurteilt. Denn Bekleidungs- und Spielzeugindustrie haben übermächtige Verbündete: die Geschichte der Menschheit, unsere Gene und die Kraft der Farben.
„Rottöne waren schon immer Frauensache, Blau gehört seit jeher in die Männerdomäne. Diese Informationen sind in unseren Genen gespeichert“, stellt Professor Harald Braem, Farbforscher am Institut für Farbpsychologie im hessischen Bettendorf, fest. Schlicht, weil Frauen im Sammlerzeitalter Beeren gesucht haben, während die Männer eher Himmel und Wasser im Blick hatten. Darauf sind wir heute immer noch geeicht. Die blassen, helleren Töne für den Nachwuchs sind einfach „jüngere“ Versionen der Ausgangsfarben. Die traditionellen Farbzuweisungen könne man weltweit und in allen Religionen beobachten, behauptet Braem. Er widerspricht der Verallgemeinerung, dass Rosa in der westlichen Welt früher eher von Jungs getragen wurde, abgeleitet vom Rot der militärischen Uniformen, wie es in mancher Literatur heißt. Erst nach dem ersten Weltkrieg hätte sich das Blau der Arbeiter und Matrosen als Männerfarbe durchgesetzt, gab es Himmelblau für Jungs und im Gegenzug dann das Rosa für Mädchen. „Das war aber eigentlich nur regional so, zum Beispiel beim englischen Adel“, meint hingegen Braem.
Behütet auf rosa Wolken schweben
Grundsätzlich tragen wir von Farben ganz archetypische Vorstellungen in uns, assoziieren sie mit Naturphänomenen und leiten daraus ihre Bedeutung für uns ab: Schneeweiß kann nur etwas ganz Reines sein, Rosenrot liebt leidenschaftlich, Sonnengelb ist fröhlich, Nachtschwarz reichlich unheimlich. Das funktioniert genauso mit Himmelblau. Und eben mit Babyrosa. Die Farbe spricht so ziemlich alles Gute im Menschen an. Sie stimmt sanft und zärtlich, verführt zum Streicheln und Liebkosen, zu einem vorsichtigen Umgang. Oder wie Professor Braem es gern nennt: „Wenn man Rosa sieht, hat man Beißhemmung.“ Das geht Frauen wie Männern so. „Deshalb finden es Väter meist völlig in Ordnung, wenn Töchter Rosa tragen.“
Wahrnehmung und Effekt jeder Farbe liegen in ihrer individuellen Wellenlänge begründet. Farben sind Reflektionen des Lichts und werden vom Auge genauso unterschiedlich aufgenommen wie Töne vom Ohr. Jede Farbe spricht ein anderes Areal im Gehirn an und entfaltet eine charakteristische Wirkung. Das zarte Rosa geht uns dabei direkt zu Herzen. „Rosa enthält die feineren Qualitäten des intensiven, warmen, Leben gebenden Rots. Es symbolisiert Liebe und Zuneigung ohne Leidenschaft“, schreibt Farbtherapeutin Christa Muths in ihrem Büchlein „Farbtherapie“. Und: „Jemand, dessen Lieblingsfarbe Rosa ist, wünscht sich eine besondere Behandlung von der Umwelt und ein beschütztes Leben.“ Kein Wunder also, dass kleine Prinzessinnen, die auf Händen getragen werden möchten, Rosa so lieben – und Lillifee zu ihrer besten Freundin machen. „Alle Prinzessinnen und Feen hatten immer Rosa an, genau wie meine Puppe. Das wollte ich auch“, weiß die inzwischen elfjährige Donna noch ganz genau. „Schon mit zwei hat sich Donna ganz unbeirrbar rosa Kleidung im Laden ausgesucht“, bestätigt ihre Mutter Dörte Bohrer, die das ursprünglich zwar nicht sonderlich erquicklich fand, sich aber nicht querstellte. Ergo gab es im Hause Bohrer für einige Jahre das komplette Lillifee-Programm inklusive pinker Wände, Ballerinakleidchen, Krönchen, blinkendem Herzzepter und stilechtem Partnerlook mit der Lieblingspuppe.
Rosa öffnet das Herz
Immer lieb sein, hilflos und schutzbedürftig: Diese klischeehaften Verniedlichungen, die mit Mädchen in Rosa verbunden sind, stoßen nicht überall auf Gegenliebe. „Die Farbe Rosa konnte ich nie leiden“, ging es Birgit, Mutter einer fünfjährigen Tochter, lange Zeit ähnlich wie mir. „Schon allein, weil sie mir als Mädchen zugeschrieben wurde und damit auch Eigenschaften, die ich nicht mit mir identifizieren konnte und wollte.“ Für solche Assoziationen hat Birgit eine außergewöhnlich gut ausgeprägte Antenne: Sie ist Synästhetikerin. Aufgrund einer seltenen neurologischen Besonderheit werden bei ihr immer mehrere Sinne gleichzeitig angesprochen. Farben kann sie deshalb tatsächlich real fühlen. Meist bleiben Synästhesien ein Leben lang gleich. Doch bei Birgit hat das Muttersein ganz überraschend ein völlig neues Bewusstsein für Rosa geschaffen. Seit der Geburt ihrer Tochter ist ihre Abneigung gegen die Farbe verschwunden und hat positiven Emotionen Platz gemacht: „Einfühlsamkeit und Zärtlichkeit, ohne bestimmen zu wollen. Wahre Mütterlichkeit, Liebe ohne Gegenleistungen“, beschreibt sie ihre nun sehr angenehmen Empfindungen von Rosa.
„Rosa öffnet eben das Herz“, weiß Dörte Bohrer, die als Heilpraktikerin in Rostock auch farbtherapeutisch arbeitet. Durch Sehen in rosa Licht kann beispielsweise Patienten geholfen werden, die unter Gefühlskälte oder auch schwerem Liebeskummer leiden. Die Herzfarbe gibt bei Erschöpfung wieder neue Kraft. Diese wohltuende Wirkung hat Dörte Bohrer selbst schon erfahren: Nach einer schwierigen Phase brauchte sie einfach mal ein Leben quasi mit rosaroter Brille und teilte für eine Weile die Leidenschaft ihrer Tochter. „Vielleicht habe ich dabei auch die fehlende Rosaphase aus der Kindheit nachgeholt.“ Pünktlich zu Donnas zehntem Geburtstag durfte Dörte Bohrer das Kinderzimmer übrigens wieder in Weiß streichen. „Nur Rosa geht gar nicht mehr, außer bei kleinen Kindern“, sagt Donna heute. Lila hingegen findet sie klasse. Damit liegt sie nicht nur in der aktuellen Modesaison im Trend: Die zeitlose und laut Professor Braem „magische“ Farbe hat schon seit Ewigkeiten enorm viele Fans. Als Mischung zwischen Rot und Blau steht sie mitnichten für den gern belästerten letzten Versuch, sondern für Übergänge.
Britney klingt Pink
Eine ganz andere Nummer ist das „Shocking Pink“. Den Farbton bringt Braem direkt mit dem Lolita-Effekt in Verbindung, dank dem einst Kindfrau Britney Spears Karriere machte: „Pink fasziniert und reizt Männer wie Frauen, auch weil man oft nur schwer schätzen kann, wie alt jemand ist, der diese Farbe trägt.“ Pink ist deutlich frecher als Rosa, frischer und auffallender. Diese Erkenntnisse der Farbforschung werden durch die Aussagen von Synästhetikern bestätigt: „Für viele klingt Rosa zart wie Vivaldi, Pink hingegen schrill wie Tafelkreide“, weiß Professor Braem. Oder halt passenderweise wie Britney Spears, findet Michaela, deren Sinne ebenfalls gut vernetzt sind und die mit Mädelsfarben nicht viel anfangen kann: „Ich bin eher burschikos. Nur kurz nach Johannas Geburt, als ich hormonverseucht und alles so babymäßig war, passte Rosa in mein Leben. Sonst erdrückt mich die Farbe schnell, vielleicht auch, weil ich sie mit süßem Geschmack in Verbindung bringe. Hört sich ein Lied rosa an, mag ich es nicht.“ Tochter Johanna geht da voll mit: Die Fünfjährige ist recht jungenhaft und hasst Rosa.
Damit gehört sie aller Wahrscheinlichkeit nach zu einer Minderheit. „Die Präferenz für Rosa findet man überall, ohne Unterschiede zwischen Stadt und Land. Es gibt zwar keine wissenschaftlichen Untersuchungen, bei wie viel Prozent der Mädchen sie tatsächlich so ausgeprägt besteht, aber wenn man von Einzelstudien und Umfragen ausgeht, muss es ein sehr hoher Anteil sein, vielleicht 60 Prozent, vermutlich sogar mehr“, schätzt Professor Braem. Warum würden Bekleidungs- und Spielzeugindustrie die Farbe auch sonst so hemmungslos einsetzen, außer aus dem guten Grund, dass sie sich bestens verkauft?
Die pinken Prinzessinnen nicht hofieren
Meine Familie ist da leider keine Ausnahme. Während ich auf Wunschlisten zu Feiertagen stets bitte, von rosa Geschenken abzusehen, sind die Großeltern beim Gedanken an ihre Enkelin für rosa Signale ausgesprochen empfänglich. So zogen am zweiten Geburtstag ein fabelhaft pinker Kindergartenrucksack und eine ebensolche Brotdose bei uns ein. Der endgültige Durchbruch kam schließlich mit einer ganzen Schachtel voller Haarspangen, Haarreifen und Zopfgummis. Alle in Pink. Die Augen meines (immer noch recht spärlich behaarten) Kindes leuchteten. Pinker Haarschmuck war alles, was sie zum Glücklichsein brauchte. Kurz darauf kam der schicksalhafte Tag, an dem Rosa mir angesichts eines komplett pinken Töchterchens siegesgewiss die Zunge rausstreckte.
Pink ja pink sind alle meine Kleider
Zum Glück der meisten Mädchen gehen Mütter in der Regel aber entspannt mit den Prinzessinnen-Anwandlungen ihres Nachwuchses um. Viele finden es einfach süß und stören sich nicht am fast unvermeidbaren Einheitslook. Die Kleinen wollen’s halt, warum also nicht, tut ja keinem weh. „Manche Dinge sind seit Menschengedenken so, das muss man nicht umstürzen“, empfiehlt auch der Farbforscher Gelassenheit. Und irgendwann geht es ja vorbei. Wann, ist völlig unterschiedlich. Manche Mädchen bevorzugen Rosa schon sehr früh und schwenken in der Pubertät vielleicht auf Protestfarben wie Schwarz um, während andere grad erst richtig mit Rosa angefangen haben. Ob man will oder nicht: Die Farbe ist wohl wirklich einfach ein Teil weiblicher Identität, steht für unsere ursprüngliche Sanftheit. Das Urgedächtnis hat sie mit positiven Erfahrungen („Ich werde besser behandelt“) verknüpft abgespeichert, und darauf greifen wir gern mal zurück. „Wir brauchen Rosa in unserem Leben, die Farbe hat eine Berechtigung“, plädiert auch Dörte Bohrer.
Bin ich also herzlos und unnormal, wenn mir Rosa und Pink oft zu viel werden? Und eine Rabenmutter, wenn ich meinem Kind die Farben am liebsten vorenthalten würde? Störe ich sie damit am Ende gar in ihrer Entwicklung zur Frau? Und müssen im Gegenzug Mütter, die ihre Töchter gern in Rosa kleiden, fürchten, ein liebes Hausmütterchen heranzuziehen? „Ach wo“, winkt Braem beruhigend ab. „Das ist alles halb so schlimm, das darf man nicht so ernst nehmen.“ Lediglich eine maßlose Übertreibung durch die regelrechte Hofierung kleiner Prinzessinnen hält er für schwierig. Das ist dann aber eine pädagogische Frage.
Einfach mal ins Blaue schauen
Statt völliger Verweigerung, die sich mein Kind vermutlich ohnehin nur umso vehementer in rosiges Plüsch stürzen ließe, versuche ich mich neuerdings im Kompromiss der sparsamen Dosierung – ein blassrosa T-Shirt heute, eine pink gestreifte Hose morgen, ein Hut mit Blümchen am Wochenende, gemixt mit moderateren Tönen wie Lachs oder einem hellen Lila. Damit können Mutter und Tochter beide gut leben. Bin ich mal wieder von Rosa übersättigt, werde ich bewusst Blau schauen. Das beruhigt und klärt, sagt Dörte Bohrer. Im Kinderzimmer habe ich jetzt – auch zur Begeisterung meiner Tochter – mal eine Wand in frischem Grün gestrichen. Das ist schließlich die Farbe der Hoffnung, und an die werde ich mich noch ein wenig klammern, auf dass Rosa vielleicht ja doch nur kurz und schmerzlos an uns vorbeirauschen wird. Zumindest, bis die erste Barbie in rosa Ballkleid unsere Türschwelle überschreitet. Dem Schenker sei schon jetzt gesagt: Das wird dann Dein letzter Besuch bei uns gewesen sein. Und falls Du Kinder hast: Geschenke-Rache ist süß…