Erziehung: Warum die Auszeit deinem Kind nicht hilft
Kleine Kinder brauchen keine Auszeit zur Strafe oder zum "runterkommen", sagen Fachleute. Sie brauchen unsere Hilfe, um auch solche Situationen zu meistern, die sie (und uns) emotional überwältigen!
Die Auszeit - eine erzieherische Sackgasse
Viele von uns kennen es noch aus der eigenen Kindheit: Wenn ein Kind nicht hörte, schickten es die Eltern nicht selten entnervt auf sein Zimmer. „Dort kannst du mal über dein Verhalten nachdenken!", oder „Da bleibst du jetzt, bis du dich beruhigt hast!" Heute nennen wir dieses erzieherische Mittel „Auszeit", „Stille Treppe" oder „Stiller Stuhl". Besser ist es auch im neuen Kleid leider nicht geworden, warnen Fachleute. Denn so eine Auszeit hilft deinem Kind nicht wirklich dabei, seine Wut oder Enttäuschung in den Griff zu bekommen, sondern fördert die Unterdrückung unguter Gefühle. Es gibt bessere Antworten auf Trotz, Wut oder Ungeduld!
Fehlverhalten: ein Appell an die Erwachsenen
Die Idee ist irgendwie bestechend: Wenn wir dem Nachwuchs unsere Aufmerksamkeit entziehen, wird er ungutes Verhalten bald sein lassen. Auf dem „Stillen Stuhl" kommt er zudem zur Ruhe und kann sich ein besseres Benehmen überlegen. Doch der Plan geht nicht auf. Mit Fehlverhalten wollen unsere Kinder nicht irgendeine Art von Aufmerksamkeit erreichen, sondern helfende Aufmerksamkeit. „Mit einem schwierigen Verhalten wollen sie sagen: ‚Mama, Papa, ich bin gerade überwältigt! Ich kann nicht aufhören, mich so zu verhalten. Ich brauche Hilfe, um mich besser zu kontrollieren!'", erklärt die Psychologin Sarah Ockwell-Smith. „Eine Auszeit ist daher genau das Gegenteil von dem, was das Kind jetzt braucht!", betont die Vertreterin des „Gentle Parenting" (Sanfte Erziehung) in einem Online-Artikel. Das Kind werde mit seinem emotionalen Problem allein gelassen.
Außerdem ist eine Auszeit immer auch eine Bestrafung: Das Kind wird von der Gemeinschaft mit seinen liebsten Bezugspersonen ausgeschlossen. So ein Ausschluss aber ist schädlich. „Die Kinder können noch nicht verstehen, dass ihr Verhalten gestraft werden soll, und nicht sie selbst als Person abgelehnt werden", erklärt Dr. med. Dunja Voos, Psychoanalytikerin aus Pulheim, in ihrem Blog. Das Kind fühle sich herabgesetzt, zurückgewiesen und gedemütigt.
Kindergehirne ticken anders
Selbst wenn diese Nachteile nicht wären – eine Auszeit kann bei kleinen Kindern nicht erfolgreich sein. Denn das Hirnareal, das für die Kontrolle von Impulsen, für die Steuerung der Gefühle und fürs Nachdenken zuständig ist (der Neocortex), beginnt erst mit etwa drei Jahren heranzureifen. Bis es einigermaßen ausgereift ist, braucht es weitere Jahre. Ein kleines Kind schafft es daher noch nicht, starke Gefühle zu kontrollieren, über sein Verhalten zu reflektieren oder gar zu beschließen, sich ab jetzt anders zu verhalten. All das aber erwarten Eltern, wenn sie ihren kleinen Delinquenten allein auf die Treppe schicken – und müssen zwangsläufig enttäuscht werden.
Scheinerfolg mit Nebenwirkungen
Einige Eltern beobachten vielleicht, dass der „Stille Stuhl" oder die „Stille Treppe" dazu führen, dass ihr Kind tatsächlich ruhiger oder stiller wirkt. Doch dies ist nur ein Scheinerfolg, warnen Kinderpsychologen. Er basiert nicht auf Einsicht, sondern ist ein Effekt, der einer Dressur ähnelt: „Das Kind wird so konditioniert, dass es seine Gefühle nach innen richtet, uns also nicht mehr zeigt, wie es sich wirklich fühlt", erklärt Erziehungsexpertin Ockwell-Smith und warnt, dass diese nach innen gerichteten Gefühle später Depressionen, selbstverletzendes Verhalten, Essstörungen und unkontrollierte Aggressionen begünstigen.
Aber selbst wenn solche Spätfolgen ausbleiben: Es kann nicht unser Erziehungsziel sein, dass unser Kind uns nicht mehr zeigt, wie es ihm wirklich geht, dass es Wut und Enttäuschung aus seiner Wahrnehmung abspalten muss. Wir wünschen uns schließlich eine offene und vertrauensvolle Verbindung zu ihm.
Hinwendung statt Abwendung: In-Zeit statt Auszeit!
Wie aber kannst du reagieren, wenn deine Tochter oder dein Sohn mit Spielzeug wirft, aus Enttäuschung schrill schreit, oder sich weigert, heruntergeworfenes Besteck aufzuheben? Besser als Auszeiten, Ausschluss und Abwendung hilft jetzt das Gegenteil: die Hinwendung! Sechs Wege, die den Kontakt zu deinem Kind auch in stressigen Momenten nicht kappen, sondern eure Verbindung erhalten:
1. Empathie: Wenn dein Kind gerade wütet oder trotzt, zeige ihm, dass du es verstehst. Es leidet tatsächlich sehr, denn es ist enttäuscht und weiß nicht, was es tun soll. Es sieht gerade keinen Ausweg aus den schlimmen Gefühlen, und das macht ihm Angst! Auch wenn du in der Sache nicht nachgeben möchtest: Zeige durch mitfühlende Blicke und Laute, dass du dein Kind verstehst und mit ihm wartest, bis der Frust abebbt. Biete ihm eine Umarmung an, akzeptiere aber auch, wenn es gerade keine möchte.
2. Gefühle benennen: Will dein Kind zum Beispiel etwas nicht aufräumen oder wirft mit Dingen, zwinge es nicht, das sofort in Ordnung zu bringen. Sage lieber: „Ich sehe, dass du gerade sehr wütend bist. Wir warten mit dem Aufräumen ein bisschen, bis du dich besser fühlst. Und dann machen wir das zusammen!"
3. Erwartung formulieren: Benimmt der Nachwuchs sich „daneben", bekrittele nicht ausführlich das falsche Verhalten. Sondern beschreibe lieber dasjenige Benehmen, das du stattdessen erwartest: „Wir schlagen nicht, das tut weh! Sondern wir benutzen unsere Hände immer vorsichtig!" „Niemand will etwas weggenommen bekommen! Du kannst das andere Mädchen aber fragen, ob du ihre Schaufel ausleihen darfst!" Dein Kind wird ungünstiges Verhalten nicht von jetzt auf gleich ändern können. Aber es wird im Laufe der Zeit verstehen, dass es mehr als nur den erstbesten Weg gibt, um einen Konflikt zu lösen.
4. Eine Alternative anbieten: „Ich kaufe heute nichts Süßes, weil das nicht gut für deinen Bauch ist. Aber du darfst dir deine Lieblingssorte Obst aussuchen." „Du kannst hier auf dem Teppich nicht mit Wasser spielen, aber ich lasse dir Wasser ins Waschbecken ein und rücke dir einen Stuhl davor, okay?"
5. Mit Humor reagieren: Reagiere einmal anders als erwartet: Lass dich bei Wutgeschrei deines Sprösslings hintenüber auf den Teppich fallen und sage: „Oh nein, das haut mich jetzt um! Oaaah, ist das laut!" Oder nimm dir eine Puppe des Kindes und frage sie: „Weißt du, was mit Marie los ist? Ich glaube, sie ist echt sauer!" „Hä? Sie sieht doch total fröhlich aus!" „Was, fröhlich? Bei dir piept's wohl, sie schreit doch!" Dein Kind wird vermutlich rasch leiser, um nicht zu verpassen, wie der Dialog weitergeht.
6. Nicht zu viel erwarten! Wir Eltern glauben manchmal, unsere Sprössling müsse doch sehen, wie gestresst wir gerade sind. Muss er da unbedingt noch eins draufsetzen? Aber Entwicklungsbiologen betonen: Kleine Kinder können sich nicht in unsere Lage hineinversetzen! Bis zum Alter von drei Jahren und mehr nehmen sie gar nicht wahr, wie es Mama oder Papa gerade mit ihnen geht. Sie möchten uns daher nicht provozieren, sondern ihre Impulse überwältigen sie einfach. Wenn wir unrealistische Erwartungen aufgeben, sind wir nicht mehr so schnell enttäuscht - und dadurch auch seltener wütend.