Kind, sei doch nicht traurig!
"Da brauchst Du nicht zu weinen" oder "sei doch nicht traurig" sind Botschaften, mit denen wir manchmal versuchen, Kindern unangenehme Gefühle auszureden. Um den angemessenen Umgang mit Wut und Traurigkeit unserer Kinder geht es in diesem Artikel.
Wut, Eifersucht, Ängstlichkeit – bitte nicht bei unserem Kind!
"Sei doch nicht so schüchtern, sag’ guten Tag zu unserem Besuch!", fordert die Mutter ihren Dreijährigen auf. Der dreht das Gesicht weg, klammert sich ans Bein seiner Mama und sagt keinen Ton. "Nun setz’ dich doch mal durch, DU bist doch jetzt dran", ruft ein Vater seiner vierjährigen Tochter auf dem Spielplatz zu, als diese nun schon das zweite drängelnde Kind an der Rutsche vorlässt. "Du brauchst doch nicht traurig zu sein, morgen spielt Lea sicher wieder mit dir", tröstet die Erzieherin wohlmeinend ihren enttäuschten Schützling. "Na? Da freust du dich aber, dass du jetzt eine kleine Schwester hast, nicht wahr?", insistiert die Oma erwartungsfroh bei der vierjährigen Enkelin. Die guckt mürrisch und kneift wenig später ihre schlafende Baby-Schwester so fest, dass diese losbrüllt.
Sie haben es manchmal ganz schön schwer, unsere Kinder. Denn wir haben hohe Erwartungen an sie. Fröhlich und unbeschwert soll unser Kind sein, das wünschen wir uns zu allererst. Dann natürlich noch kontaktfreudig und aufgeschlossen. Es darf gern auch Ellbogen beweisen (auch wenn wir das nicht laut sagen), denn schließlich soll es sich ja im Sandkasten nicht unterbuttern lassen. Wenn sich ein kleines Geschwisterchen ankündigt, soll sich das ältere Kind herzlich freuen. Eifersucht ist da ganz unnötig. Unser Kind sollte zu seiner eigenen Sicherheit außerdem energisch "Nein" sagen können, das schon. Aber bitte nicht zu uns. Wut, Trauer, Neid – all das lieber nicht, denn das passt nicht in unser Bild davon, wie sich ein glückliches Kind verhalten sollte. Warum aber fällt es uns manchmal so schwer, Aggressionen, Schmerz, Traurigkeit oder Eifersucht bei unserem Nachwuchs zuzulassen?
Negative Gefühle beim Kind machen uns Angst
Vielleicht deshalb, weil wir nur die Hälfte unseres Kindes anschauen möchten, nämlich die freundliche und helle Seite. Als sei unser Kind der leuchtende Mond, dessen dunkle Rückseite wir nicht so besonders reizvoll finden. Genau wie bei uns selbst. Fast scheint es, als solle unser Kind uns widerspiegeln. Aber nicht so, wie wir sind, sondern wie wir gern sein möchten. Negative Gefühle beunruhigen uns. Und so tun wir manche Empfindungen unseres Nachwuchses zu eilig ab mit Sprüchen wie: "Das tut doch gar nicht so weh!" oder "Du brauchst nicht traurig zu sein!" Allzu oft fordern wir unsere Kinder auch auf, anders zu empfinden: "Sei doch nicht immer so ängstlich, geh doch einfach mal zu den anderen Kindern hin!" Damit vermitteln wir ihm leider nicht mehr Selbstsicherheit, sondern die Botschaft: "Ich hätte dich gern anders als du bist. So wie du bist, gefällst du mir nicht." Manchmal steckt dahinter auch die Angst, unser Kind könnte sich im späteren Leben nicht behaupten.
Damit unser Kind aber wirklich ein glücklicher Erwachsener wird, ist es entscheidend, dass es seine Gefühle kennen- und damit umgehen lernt. Ich erinnere mich gern an den kleinen Niklas, den ich mit seiner Mutter in der Turngruppe kennenlernte. Er wollte die ersten 20 Minuten nie mitmachen. Auf die Aufforderung der Leiterin "Nun spiel doch mit!", sagte er beim ersten Mal leise: "Ich bin noch zu schüchtern, ich mache nachher mit." Ich bin sicher, Niklas wird seinen Weg gehen. Ein Kind, das dagegen nicht lernt, seine Stimmung wahrzunehmen, hat es schwerer, ein vollständiges und gesundes Ich zu entwickeln. Dies bringt der Neurologe Antonio Damasio in dem knappen Satz "Ich fühle, also bin ich" auf den Punkt, mit dem er dem berühmtem Ausspruch René Descartes’ ("Ich denke, also bin ich") widerspricht.
Wie ein Kind empfinden dürfen muss, um seelisch gesund zu bleiben, erklärt die Familientherapeutin Alice Miller: "Ich darf traurig oder glücklich sein, wenn mich etwas traurig oder glücklich macht, aber ich bin niemandem eine Heiterkeit schuldig und muss nicht meinen Kummer oder Angst oder andere Gefühle nach den Bedürfnissen anderer unterdrücken. Ich darf böse sein, und niemand stirbt daran, niemand bekommt Kopfweh davon, ich darf toben und Dinge kaputt machen, ohne die [Liebe der] Eltern zu verlieren", schreibt sie in ihrem Buch "Das Drama des begabten Kindes". Ein Kind müsse Gefühle von Zorn und Wut ohne Tadel oder Strafe erleben dürfen, denn nur so bleibe es seelisch lebendig, so Miller.
Misfit – Wenn Eltern ihr Kind gar nicht mehr verstehen
Natürlich sind wir keine herzlosen Monster, die ihren Kindern ihre Gefühle nicht zugestehen wollen. Wir trösten unser Kind, wenn es sich wehgetan hat. Wenn unser Nachwuchs von seiner Lieblingsfreundin nicht zum Geburtstag eingeladen wird oder wenn er beim Spiel öfters ausgeschlossen wird, dann blutet uns das Herz. Schwerer ist es aber, die Enttäuschung beim Kind nicht schnell wegreden zu wollen. Andere Empfindungen wiederum nehmen wir gar nicht erst besonders ernst. So lachen Erwachsene oft ungehemmt, wenn die Kleinen beim Sprechenlernen Stilblüten produzieren. Dass ihre Erheiterung für das Kind beschämend ist, bemerken sie oft nicht. Noch schwieriger wird es, wenn wir das Verhalten unserer Kinder ablehnen. Wenn also z.B. Eltern von ihrem verträumten Jungen, der viel Zeit braucht, um alles genau zu betrachten, erwarten, er möge doch draufgängerischer und in allem etwas fixer sein. Diese Kollision zwischen elterlichen Erwartungen und den Bedürfnissen des Kindes nennt der Schweizer Kinderarzt Remo H. Largo einen "Misfit" (engl.: etwas passt nicht zusammen). Dieser Misfit entstehe durch eine "ungenügende Anpassung der Umwelt an die individuellen Bedürfnisse und Eigenheiten eines Kindes", erläutert er in seinem Buch "Kinderjahre". Ein zu großer Misfit münde beim Kind nicht selten in Verhaltensauffälligkeiten wie Aggressivität, in psychische Symptome (Einnässen) oder Entwicklungsverzögerungen und Leistungseinbußen.
Wie man in den Wald hineinruft...
Leicht entsteht aus einem solchen Misfit ein Teufelskreis: Fühlt und verhält sich unser Kind hartnäckig so, wie wir es nicht möchten, rutschen Eltern leicht verallgemeinernde Vorwürfe wie "Musst du immer so langsam sein?" heraus. "Negative Programmierungen" nennt der australische Psychologe Steve Biddulph dies. Am fatalsten sind Bemerkungen wie "Du bist schon genau wie dein Vater/deine Mutter", bei denen die Einzigartigkeit des Kindes vollständig auf der Strecke bleibt. "Solche Äußerungen haben einen hypnotischen Effekt und wirken im Unterbewusstsein weiter", warnt der Familientherapeut in seinem Buch "Das Geheimnis glücklicher Kinder". "Denn wie Samen werden sie in der Psyche des Kindes keimen und am Ende sogar seine gesamte Persönlichkeit prägen." Wie aber schafft man es im oft nervenaufreibenden Alltag, auch negative Kindergefühle und unerwünschte Eigenschaften des Kindes gelassener zu nehmen?
Gefühle brauchen Namen
Es hat fast etwas Magisches: Was einen Namen hat, ist viel leichter zu zähmen, das gilt auch für unangenehme Gefühle. Bereits kleinen Kindern sollten wir daher helfen, für ihre Empfindungen Worte zu finden: "Ich kann gut verstehen, dass du jetzt enttäuscht bist." Oder "Bist du wütend, weil deine kleine Schwester dein Spielzeug kaputt gemacht hat?" Oft bringt allein das bewusste Wahrnehmen und Benennen der kindlichen Gefühle eine große Entspannung in stressige Phasen. Aber auch schöne Empfindungen brauchen Worte: "„Ich sehe, du bist heute ganz fröhlich, oder? Mir geht das auch so!" Psychologen benutzen hierfür auch den Begriff der Spiegelung: Eltern sollten die Gefühle ihrer Kinder spiegeln, also sie für das Kind sichtbar machen. Paradoxerweise kann ein Kind allein dadurch, dass es seine Gefühle kennenlernt und benennt, diese oft schon in etwas Positives verwandeln. Meine dreijährige Tochter erwiderte am allerersten Kindergartentag auf den (nicht besonders einfühlsamen) Vorwurf der Erzieherin "Ja, wieso weinst du denn jetzt?" schniefend: "Na, weil ich mich so fremd fühl’ hier, ich kenne doch alles noch gar nicht!" Zugegebenermaßen war ich recht stolz, als die Erzieherin mir beim Abholen erstaunt von dieser Antwort berichtete, die sie in dieser Klarheit bis dahin noch kaum von einem Neuling gehört hatte.
Vielleicht haben wir diese (und ähnliche) Schlagfertigkeiten unserer Kleinen dem wunderbaren Büchlein vom "Seelenvogel" (siehe unten) zu verdanken, das wir oft vorlesen. Dieser Vogel fühlt sich mal klein und hilflos, mal fröhlich und groß. Und manchmal spannt er vor Glück seine Flügel himmelweit aus. Jeden Tag öffnet er unzählige Fächer, denn er hat für absolut jede Empfindung auf der Welt eine eigene Schublade. Da gibt es ein Fach für Wut, für Neid, für Fröhlichsein usw. Man kann dann abends als Teil des Einschlafrituals fragen, welche Gefühls-Fächer denn das Kind heute aufgemacht hat. Nicht selten bekommt man unerwartete Einblicke: "Als ich heute Mittag das Gemüse aufessen musste, hab’ ich mich ganz schlimm gefühlt. Du hast doch neulich gesagt, ich brauche nichts zu essen, was ich nicht will", erzählte sie, womit sie leider recht hatte...
Wieviel schlechte Gefühle sind normal?
Wichtig ist, dass ein Kind über eine breite Palette von Gefühlen verfügt. Ein gesundes Kind ist überwiegend fröhlich und nur gelegentlich traurig oder aggressiv. Es sollte viel spielen, interessiert und lebhaft wirken. Aufmerken sollten Eltern, wenn ihr Kind überwiegend negative Gefühle entwickelt, also fast immer traurig oder aggressiv ist, oft weint, das Interesse an Dingen verliert, die früher Spaß gemacht haben, häufig körperliche Beschwerden wie Kopf- oder Magenschmerzen oder wenig Energie hat, sich schlecht konzentrieren kann, antriebslos wirkt oder wenn sein Ess- oder Schlafverhalten sich auffallend verändert haben. Denn hinter solchen Symptomen kann auch schon bei kleinen Kindern eine Depression oder andere Störung stecken. Hier sollte man nicht zögern, den Kinderarzt zu befragen oder sich an eine Erziehungsberatungsstelle zu wenden (z. B. bei Kinderschutzbund, Stadt, Caritas, Diakonie).
Zum Nachlesen:
- "Der Seelenvogel" von Michal Snunit und Na'ama Golomb, Carlsen
- "Kinderjahre" von Remo H. Largo, Piper
- "Das Drama des begabten Kindes" von Alice Miller, Suhrkamp
- "Das Geheimnis glücklicher Kinder" von Steve Biddulph, Heyne
- "Ich fühle, also bin ich – Die Entschlüsselung des Bewusstseins" von Antonio R. Damasio, List Taschenbuch