Kinder im Stress

Schulangst: Bauchweh am Montagmorgen

Dass Gefühle manchmal auf den Magen schlagen, kennen wir alle gut. Wenn Kinder daher regelmäßig am Montagmorgen über Bauchweh klagen, steckt meist kein organisches Problem dahinter. Was wehtut, ist die Schule. Hier gibt es Tipps gegen die Schulangst.

Autor: Heike Byn

Kann ich heute mal zu Hause bleiben?

Junge Schule Buch

Seit der kleine Tom im letzten Jahr von der Grundschule aufs Gymnasium wechselte, klagte er regelmäßig am Montagmorgen über Bauchschmerzen. Manchmal war ihm auch übel und mehr als einmal schon sah er seine Mutter flehend an: „Kann ich heute mal zu Hause bleiben?“ Es hat eine Weile gedauert, bis Sonja Feldkamp den genauen Grund dafür erkannte: Gleich in den ersten beiden Stunden stand der Mathematik-Unterricht auf dem Stundenplan. Immer dann, wenn das verhasste Fach am nächsten Tag dran war, ging der Junge schon abends mit bedrückter Miene ins Bett und konnte lange nicht einschlafen. Morgens schleppte er sich dann trödelnd und nervös zur Schule. Doch seit einigen klärenden Gesprächen mit Toms Mathelehrer, ein bisschen Anschubhilfe durch einen fitten Oberstufenschüler aus der Nachbarschaft, und der von den Eltern vermittelten Gewissheit, ihn nie wegen einer schlechten Mathenote auszuschimpfen, hat das einstige Horror-Fach inzwischen für Tom an Dramatik verloren. So wie Tom geht es vielen Schülern im Land. Experten und Studien verbreiten dazu beeindruckende Zahlen: Zwischen fünf und zehn Prozent aller Kinder und Jugendlichen leiden demnach an Schulangst – also bis zu einer Million Jungen und Mädchen.

Angst vor Noten und Elternansprüchen

Es ist vor allem Notenangst, die dahinter steckt – und damit die Angst vor dem eigenem Versagen. Vor dem Gesichtsverlust in der Klasse und der Enttäuschung der Eltern. „Leistungsbeweise wie Klassenarbeiten und Noten sind für Schüler purer Stress, der Versagensängste hervorrufen kann“, sagt Detlef Träbert, Bundesvorsitzender der „Aktion Humane Schule“ (AHS) mit 30-jähriger pädagogischer Berufserfahrung, früher als Lehrer und Beratungslehrer in Baden-Württemberg, seit 12 Jahren als freier Schulberater und Autor. Der Verein, der 1974 als Bürgerinitiative entstand, setzt sich bundesweit für mehr Menschlichkeit in der Schule ein. Sitzt die Versagensangst fest, führt das schon fast automatisch zu schlechteren Leistungen. „Ist dann erst einmal die Angst vor der Angst da, gibt es ein wirkliches Problem“, so Träbert, der sich in seinem Schulberatungsservice auch dem Thema Schulangst widmet.

Besonders oft leiden sechs- und zehnjährige Kinder unter Schulangst: Denn die Einschulung oder der Wechsel auf die weiterführende Schule bedeuten für die meisten Schüler eine große Veränderung in ihrem noch jungen Leben. Die Schulangst ist dabei auch vom Schultyp abhängig. So ist sie etwa unter Gymnasiasten besonders häufig. Typische Anzeichen sind Bauch- oder Kopfschmerzen, Ein- und Durchschlafstörungen bis hin zu (vor allem morgendlicher) Übelkeit, Erbrechen und Kreislaufschwäche. Zugegeben - Bauch- und Kopfschmerzen können auch Symptome diverser Krankheiten sein, von Überforderung oder schlicht von zu wenig Schlaf, den ein Kind bekommt. Klagt ein Kind zum ersten Mal über Schmerzen oder Übelkeit, ist der erste Impuls der Eltern, es daheim zu lassen. Eine ebenso normale wie nachvollziehbare Reaktion. Hat das Kind häufiger Bauch- oder Kopfweh, schafft ein Besuch beim Kinderarzt Klarheit. Findet der keine organischen Ursachen, dann sollten die Eltern ihren Sprössling genau beobachten: Taucht das Bauchweh regelmäßig am Wochenanfang auf? Oder am Vorabend, wenn am nächsten Tag ein bestimmtes Fach auf dem Stundenplan steht? Oder ist es gar ein ständiger Begleiter während der Schulwoche? Dann zeugt das von Schulangst. Die Reaktion der meisten Kinder ist eindeutig: verstecken und vermeiden.

Doch sie merken schnell, dass ihnen das nicht hilft, denn dadurch wird die Angst nur noch größer. Die einzige Lösung ist, sich der Furcht zu stellen und sich mit der Angst zu beschäftigen. Wenn Kinder das verinnerlichen, lernen sie etwas wichtiges fürs Leben. „Kinder schaffen schon viel allein, wenn Vater und Mutter keine Fluchtwege eröffnen. Eine etwas robustere Gangart ist da am Anfang angesagt; bloß keine Entschuldigungen schreiben“, rät Wolfgang Oelsner, Leiter der Klinikschule der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Köln, in seinem Buch „Schulangst erfolgreich begegnen“. Robust heißt aber nicht gefühllos: Also dem Kind den Rücken stärken, es aufmuntern, Tipps für Lösungen geben. Miteinander ins Gespräch kommen, zusammen etwas Schönes unternehmen. Aber unbedingt weiter zur Schule schicken.

Keine Scheu vor professioneller Hilfe!

Wenn die Kinder aber dauerhaft leiden, ohne dass es einen konkreten Grund dafür gibt oder wenn sie gelernt haben, aber vor lauter Nervösität nicht einmal mehr die Aufgaben verstehen, dann sollten Eltern Hilfe bei Fachleuten suchen. Träbert und andere Experten in Sachen Schulangst raten bei Schulangst, die länger als drei bis vier Monate anhält, professionelle Unterstützung in Anspruch zu nehmen – und sich an eine Erziehungsberatungsstelle, den schulpsychologischen Dienst oder eine Praxis von Kinder- und Jugendpsychologen zu wenden. Allgemein gilt: Je länger das Problem anhält, desto schwieriger wird es, es zu beheben. Zwei wichtige Kriterien geben Hinweise darauf, ob vorübergehende Aussetzer schon ein Symptom echter Schulangst sind: Leistungsabfall und Zeitpunkt. Nicht alle Betroffenen sind schlechte Schüler, aber alle hätten ohne Angst bessere Noten. Der zweite Hinweis: wenn Schmerz, Schwäche oder Verzweiflung immer nur während der Schulzeit auftreten und am Samstag plötzlich alles wieder gut ist. Um mehr über Gründe für die Schulangst zu erfahren, müssen Eltern mit ihren Kindern ins Gespräch kommen. „Das heißt aber nicht, sie gleich nach Schulschluss mit bohrenden Fragen ins Kreuzverhör zu nehmen. Gemeinsame Rollenspiele – zum Beispiel für Grundschulkinder mit Puppen oder Playmobil-Figuren – oder das zwanglose Gespräch beim gemeinsamen Essen über den vergangenen Tag bringen viel eher ans Licht, wo mögliche Probleme liegen“, rät Diplom-Pädagoge Detlef Träbert.

Warum Schulangst zunimmt

Das Problem der Schulangst hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Darin ist sich die Forschung einig. „Dafür sind vor allem Leistungsdruck, Mobbing durch Mitschüler, unsensible Lehrer und ehrgeizige oder übertrieben fürsorgliche Eltern verantwortlich“, so Träbert.

Leistungsdruck

Der Spielraum für Lehrer, sich auf den Lernstand einzelner Klassen einzustellen, schrumpft immer weiter. Durch die Einführung der nur noch achtjährigen Gymnasialzeit, des Zentralabiturs und der regelmäßigen Lernstandserhebungen der Landesregierung muss der Unterricht immer mehr auf vorgegebene Lernstandards reduziert werden. Wer da als Schüler nicht mitziehen kann, fällt schnell aus dem Raster.

Mobbing

Unter der Woche ist oft schon der Weg zur Schule ein Problem: Da werden bereits Grundschüler von Mitschülern erpresst. Verständlich, dass Kindern bei Schikanen und Gewalt angst und bange wird. Außerdem definierte sich die soziale Rangordnung und das Zugehörigkeitsgefühl von Jugendlichen noch nie so sehr über käufliche Mode wie heute. Wer die falsche Marke trägt, wird ausgegrenzt oder gar körperlich drangsaliert.

Lehrerstress

Viele Kinder und Teenager klagen über ein angespanntes Verhältnis zum Lehrer. Oft merken die Pädagogen noch nicht einmal, was für einen Eindruck sie in ihren Klassen hinterlassen. Nicht wenige Lehrer legen zu Stundenbeginn automatisch ihr Notenbuch auf den Tisch – aus Routine. Bei vielen Jugendlichen löst schon alleine das Unruhe und Herzklopfen aus.

Elternerwartungen

Heute wünschen sich die meisten Eltern angesichts von Lehrstellenmisere, Bildungsnotstand, Arbeitslosigkeit und Pisa-Problemen für ihr Kind den bestmöglichen Schulabschluss – sprich: das Abitur. Das Ziel wird schon den Kleinsten vorgegeben und begleitet sie spätestens ab dem zweiten Grundschuljahr, wenn es zum ersten Mal ein Zeugnis mit Noten gibt. Viele Eltern meinen, mit der Schulwahl würden die Eintrittskarten für das Wohlergehen im späteren – wohlhabenden – Leben gezogen, und die Weichen würden schon bei der Einschulung gestellt. Die Studie „Eltern unter Druck“ der Konrad-Adenauer-Stiftung bestätigt das. Demnach bewerten 75 Prozent der Eltern den Schulabschluss ihres Kindes als „persönlich sehr wichtig“. Doch das Gymnasium ist längst nicht für alle ideal. Tatsächlich haben nur rund 30 Prozent eines Jahrgangs am Ende der Schulzeit tatsächlich das Abi in der Tasche.

Schulphobie muss therapiert werden

Die Schulangst ist aber nicht mit der so genannten Schulphobie zu verwechseln, die weitaus seltener auftritt. Dabei handelt es sich um eine schwere, panikartige Angstreaktion. Betroffene Schüler schaffen es oft nicht, in die Schule zu gehen. Auch einige der „Schulvermeider“, aber bei weitem nicht alle, leiden an Schulphobie. Tatsächlich ist die Schule hier oft nur der Anlass für das Problem, das tiefer liegende Ursachen hat, zum Beispiel Arbeitslosigkeit, Beziehungsstress oder Trennung der Eltern. Einer Schulphobie kann aber auch eine Beziehungsstörung zwischen Eltern und Kind zugrunde liegen: Was heute viele Eltern für den Nachwuchs ebenso erhoffen wie Bildung, ist eine sorgenfreie, behütete Kindheit. Das führt manchmal allerdings zu einer totalen Verwöhnhaltung, die das Selbstständigwerden der Kinder verhindert. Die Folge ist Verunsicherung beim Kind und ständiges Klammern an den Eltern, vorzugsweise an der Mutter.

So oder so - von einer Schulphobie betroffene Kinder oder Jugendliche müssen deshalb gemeinsam mit ihrer Familie kinder- bzw. jugendpsychiatrisch begleitet werden. Nur so lassen sich die wahren Ursachen erkennen und ihre Auswirkungen auch dauerhaft heilen.

Fünf Tipps für Eltern zum Schulanfang und -wechsel

  • 1. Gespräche über die Schulwahl zur Elternsache machen

    Die Wahl der Grundschule oder der weiterführenden Schule sind wichtige Themen, bei denen Eltern ihr Kind einbeziehen sollten. Entscheidungen müssen Eltern allerdings in eigener Verantwortung treffen. Mit der Frage „Und was meinst du dazu?“ sind Schulanfänger überfordert. Auch beim Wechsel auf die weiterführende Schule oder der Wahl der ersten Fremdsprache ist Vorsicht geboten.

  • 2. Zuversichtlich mit dem Thema umgehen

    Schulangst kann auch unbewusst weitergegeben werden, wenn man sie verdrängt. Es hilft dem Kind, wenn seine Eltern von ihrer eigenen früheren Schulangst oder Schulproblemen erzählen und wie sie sie überwunden haben. Angst ist schließlich ganz normal und gehört nun einmal zum Leben dazu.

  • 3. Kinder nicht mit Erwachsenenstrategien überfordern

    Sätze wie „Guck, dass du einen guten Platz erwischst“ oder „Achte darauf, dass die Lehrerin einen guten Eindruck von dir bekommt“ sind Erwachsenenstrategien für deren Berufsleben. Schulanfänger werden durch solche Ratschläge nur verängstigt.

  • 4. Kinder zu starken Menschen erziehen

    Kinder brauchen Zeit und Raum, ihr Selbstwertgefühl durch Eigenaktivität bei Sport, Freizeitaktivitäten, Hobbys und mit Freunden zu entwickeln, so dass die Schule nicht zu wichtig für sie wird. Motto: „Selber tun macht tüchtig, selber denken macht schlau“ (Detlef Träbert).

  • 5. Gelassenheit zeigen und Kinder akzeptieren

    Es ist sehr wichtig, dass Eltern gelassen bleiben und ihr Kind so sein lassen, wie es eben ist. Man kann keinen Menschen dauerhaft zu Verhaltensweisen oder Interessensschwerpunkten nötigen, die seinem Wesen widersprechen. Deshalb sollten Eltern auch nicht mit Enttäuschung auf einen Misserfolg des Kindes in der Schule reagieren, die dazu beiträgt, die Bedeutung der Schulangst noch zu vergrößern.

Links und Bücher zum Thema

Internet-Links

Buchtipps

Wolfgang Oelsner, Gerd Lehmkuhl: Schulangst erfolgreich begegnen. Ein Ratgeber für Eltern und Lehrer. dtv 2004, 159 Seiten, 8,50 Euro. ISBN 978-3423341394

Rolf Heiderich, Gerhart Rohr: Ohne Angst in der Schule: Probleme erkennen und erfolgreich überwinden. Urania Verlag 2007, 128 Seiten, 12,95 Euro. ISBN 978-3332020083

Dieter Krowatschek, Holger Domsch: Stressfrei in die Schule: Ängste überwinden. Walter Verlag 2006, 200 Seiten, 14,90 Euro. ISBN 978-3530401929