Kehrseite der Mutterschaft

Dem Baby geht’s prima! Und wo bleibe ich?

Ein Baby zu haben bedeutet für die meisten Mütter eine Zeit voller Seligkeit und Glück. Eigene Bedürfnisse und Interessen bleiben dabei allerdings in der Regel auf der Strecke. Aber wie viel Selbstaufgabe tut gut?

Autor: Gabriele Möller

Seit der Geburt des Kindes fast nur zu Hause

Ernährung in der Schwangerschaft
Foto: © iStock, lolostock

„Seit der Geburt unseres Sohnes vor 18 Monaten habe ich die Wohnung nicht mehr ohne Kind verlassen“, klagt eine Mutter im Elternforum von urbia und ergänzt: „Mein Sohn klebt an mir wie eine Klette. Selbst wenn sein Papa zu Hause ist, heißt es immer nur ‚Mama-Mama-Mama!’. Mittlerweile merke ich, dass es mir zuviel wird. Ich fühle mich allein gelassen, ich habe keine Freizeit mehr. Ich würde so gern mal wieder weggehen“. Und diese Userin mit dem Nick „Summerbreaze“ ist kein Einzelfall: Viele Forumsteilnehmerinnen stimmten in ihre Seufzer mit ein oder gaben Rat. Anlass für urbia, der Sache auf den Grund zu gehen: Wie viel Freiheit braucht eine Mutter, und wie viel Trennung kann sie ihrem Baby oder Kleinkind zutrauen? Ist es wirklich so einfach, sein Kind mal eben „abzugeben“? Und was tun, wenn es keine Großeltern in der Nähe gibt, der Partner erst spät nach Hause kommt oder einen generell zu wenig unterstützt?

Altmodische Opferbereitschaft contra moderne Selbstverwirklichung

Kaum ein Einschnitt im Leben der Eltern ist so tiefgreifend wie der Einzug eines Babys. Und immer noch sind es vor allem die Frauen, deren Leben sich drastisch ändert, weshalb sie hier im Fokus stehen sollen. An die Stelle des Berufs tritt der 24-Stunden-Job „Muttersein“, die Nächte verlaufen im Stakkato zwischen Schlaf und Füttern, man schleicht erschöpft durch die Tage, und das Baby sägt mit nachdrücklichem Geschrei an den Nerven. Im Kleinkindalter wird der Nachwuchs auch nicht gerade weniger anstrengend. In den alten Zeiten der Großfamilie wussten Frauen noch von ihren zahlreichen kleinen Geschwistern, wie der Kinder-Alltag aussieht. Heute sind viele Mütter beim ersten Kind völlig überrascht davon, wie kräftezehrend er ist. Und tun sich schwer damit, dass ihre eigenen Bedürfnisse jetzt nur noch an zweiter Stelle kommen. Die moderne Gesellschaft hat sie darauf schließlich auch kaum vorbereitet: Freizeitspaß, Selbstverwirklichung, Individualität und rasche Wunscherfüllung lauten ihre Botschaften. Opferbereitschaft, Selbstbeschränkung, Verzicht? Diese Worte klingen in unseren Ohren schon fast peinlich altmodisch. Dennoch sind diese Tugenden zumindest in der ersten Zeit mit Baby sehr aktuell, es lebt regelrecht von ihnen: „Das Kind macht in den ersten Lebenswochen die Erfahrung, dass seine Bedürfnisse zuverlässig durch die Mutter befriedigt werden. Es kann sich auf die Mutter verlassen. Es entsteht eine tiefe Beziehung zwischen Mutter und Kind. Diese Erfahrungen sind die ersten Bausteine für ein Vertrauen in diese Welt“, betont der Entwicklungsforscher Dr. Remo H. Largo („Babyjahre“).

Zu viel Selbstaufgabe kann krank machen

Wie eine Mutter damit zurechtkommt, dass ihre eigenen Bedürfnisse zweitrangig geworden sind, hängt auch von ihrer Situation und Persönlichkeit ab. „Ich war lange berufstätig, hatte bei der Stadtverwaltung unserer Stadt ein wenig Karriere gemacht und konnte mir ein sportliches Auto und ein Reitpferd leisten“ berichtet Susanne W. aus Erftstadt, die beim ersten Kind 29 war. „Als unsere erste Tochter kam, auf die wir sehr lange warten mussten, bin ich aus allen Wolken gefallen, wie stressig der Alltag nun wurde. Ich hatte mir das Leben mit dem heiß ersehnten Kind viel romantischer vorgestellt. Außerdem hatte ich schon in der Schwangerschaft das Pferd abgeschafft, um die Gesundheit meines ungeborenen Babys nicht zu gefährden. Das war mir sehr schwergefallen. Das Ergebnis dieser ganzen Ernüchterung war eine lang anhaltende Wochenbett-Depression, die psychotherapeutisch behandelt werden musste.“ Erst als sie wieder stundenweise zu arbeiten begonnen hatte, während die Großeltern das Kind hüteten, kehrte wieder mehr Zufriedenheit in ihr Leben ein.

Auch das Alter der Mütter spielt eine Rolle: Manchmal tun jüngere Frauen sich mit dem Babystress leichter, weil sie anpassungsfähiger sind und weniger lang ein weitgehend selbstbestimmtes Leben pflegen konnten. Andererseits können auch „späte“ Mütter, die das Gefühl haben, wirklich nichts verpasst zu haben, manchmal sehr geduldig zurückstecken. Und auch eine Frau, die als Kind mit deutlich jüngeren Geschwistern aufgewachsen ist, hat meist weniger Probleme, sich zurückzunehmen, weil ihre Erwartungen realistischer sind.

'Gib doch dein Kind einfach mal ab!'

Klagt eine Mutter über zu wenig Freiraum, finden sich meist sehr rasch andere Eltern, die ihr den Rat geben, doch das Kind „einfach mal abzugeben“. Etwaige Bedenken werden gerne beiseite gewischt: „Man darf sich nur nicht so verrückt machen. Den Kleinen schadet das nicht, und wenn du das ein paar Mal gemacht hast, wird es für dich und dein Kind leichter. Dein Kind muss auch Verluste lernen!“ findet eine urbia-Userin Ganz so einfach ist es jedoch nicht. Vielen Müttern fällt es schwer, die anfangs fast symbiotische Beziehung zu ihrem Baby zeitweise zu lösen und das Kind jemand anderem zu überlassen. Auch „Summerbreaze“, die das Thema ins urbia-Forum eingebracht hatte, fühlt so: „Ich liebe meinen Sohn über alles und gebe ihn nur mit Bedenken in andere Hände.“ Dieses Gefühl ist natürlich und hat nichts mit „Nicht-loslassen-Können“ zu tun. Man braucht sich nicht unter emotionalen Leistungsdruck setzen zu lassen, wonach man von gestern ist, wenn man sein Kind nicht gern abgibt.

Trennungsangst: Wenn das Baby klammert

Manche Mütter hätten dagegen gar keine Probleme, ihren Nachwuchs regelmäßig abzugeben, wenn dieser denn bloß mitspielen würde. Denn zwar tun sich manche Babys und Kleinkinder mit anderen Betreuenden relativ leicht: „Unsere beiden Kinder sind schon so oft ohne Mama gewesen, beide Kinder haben keine Trennungsschwierigkeiten und beide Kinder machen kein Theater, wenn Mama mal geht“, berichtet eine Forumsmutter zufrieden. Für andere Babys oder Kleinkinder ist es dagegen eine fast traumatische Erfahrung, bei Babysitter oder Großeltern allein gelassen zu werden. Sehr zurückhaltende Kinder fremdeln oft sogar bei den eigenen Verwandten. „Die Trennungsangst ist die unsichtbare Leine, die das Kind an vertraute Personen bindet. Diese Leine ist von Kind zu Kind ganz unterschiedlich lang,“ erläutert Kinderarzt Largo. Ob ein Kind seine Trennungsangst gut bewältigen kann, hängt aber auch vom Alter ab: „Der Beziehungsfähigkeit eines Säuglings sind Grenzen gesetzt“, warnt der Fachmann. „Seine Wahrnehmung ist noch wenig entwickelt. Damit der Säugling eine Beziehung zu einer Person aufbauen kann, braucht er lang dauernde und stabile Erfahrungen mit dieser Person.“

Loslösung nicht erzwingen

„Abgabe-Befürworter“ lassen Trennungsangst jedoch oft nicht gelten. Sie argumentieren, jedes Kind brauche Herausforderungen und müsse sich von der Mutter auch mal lösen. Das Dilemma, in dem sich ein kleines Kind dabei jedoch befindet, erläutert Kinderarzt Dr. Rüdiger Posth: „Ein Säugling muss einerseits seinen Aktionsradius erweitern. Er muss das Gefühl von Eigenständigkeit erleben. Aber die dabei vollzogene Entfernung von der Mutter ist auch mit ängstlichen Gefühlen verbunden und lässt in ihm wieder das alte Empfinden der Bedrohtheit wach werden. Es mischt sich also in seinen Unternehmungsgeist auch eine gehörige Portion Unsicherheit und Vorsicht“, so der Arzt, der Eltern zur seelischen Entwicklung von Babys und Kleinkindern berät. Diese Unsicherheit ist bei manchen Babys nur leicht, bei anderen sehr stark ausgeprägt. Ein klammerndes Kind im Hauruck-Verfahren zur Loslösung zu zwingen, wäre schädlich. Genau der umgekehrte Weg ist richtig: „Wenn man den fremdelnden Säugling vor den ihm Angst bereitenden Menschen oder Orten schützt und ihm die absolute Sicherheit im elterlichen Arm zubilligt, wird er sich mit der Zeit zu einem weniger ängstlich gebärdenden, zuversichtlicher aufs Neue blickenden, älteren Säugling und Kleinkind entwickeln“, erklärt Posth.

In kleinen Schritten weg vom Rockzipfel

Auch anhängliche Babys oder Kleinkinder können meist irgendwann auch von anderen betreut werden, wenn sie genug Vorlaufzeit hatten: Seine Großeltern, die Tagesmutter oder den Babysitter muss das Kind im Vorfeld gut kennen gelernt haben. Es muss Vertrauen haben und sich von ihnen trösten lassen. Manche Kinder brauchen dazu sehr lange. Hier empfiehlt Entwicklungspsychologe Posth die Politik der kleinen und kleinsten Schritte: „Das klettenhafte Nachfolgen lässt sich zumindest zeitweise unterbrechen dadurch, dass man eine andere Mutter in ähnlicher Situation zu sich nach Hause bittet, oder eine Vertrauensperson aus der Familie mit dem Kind spazieren gehen schickt. Auch alle kindgerechten Ablenkungsmanöver sind geeignet, den kindlichen Zwang zum Bindungserhalt ein wenig zu lockern“, so der Fachmann. Kann das Kind anfangs also vielleicht nur wenige Minuten mit jemand anderem (Vertrautem) im Zimmer allein bleiben, kann die Mutter sich später auch mal länger entfernen.

Nicht nur Babys können sich jedoch mit vorübergehenden Trennungen manchmal noch sehr schwer tun: „Die Trennungsangst ist bei zwei- bis dreijährigen Kindern am ausgeprägtesten“, hat Kinderarzt Largo sogar beobachtet. Auch sie brauchen also manchmal eine längere Übungszeit, wenn jemand anders sie betreut.

Ein komplexer Gefühls-Mix sowohl bei den Müttern als auch bei den Kleinen spielt also beim Thema „Abgeben“ mit hinein, und schnell wird klar: Pauschale Empfehlungen sind wenig hilfreich. Jede Mutter muss schauen, wo ihre persönlichen Grenzen der Selbstaufgabe erreicht sind, muss aber dabei gleichzeitig die individuelle Trennungsangst ihres Kindes berücksichtigen. Was das eine Baby oder Kleinkind locker wegsteckt, kann das Urvertrauen eines anderen arg erschüttern. Manche Mütter können sich und dem Kind schon früh Fremdbetreuung (und zum Beispiel eine Rückkehr in ihren Beruf) zumuten, für andere ist dies ein Schritt, der noch warten muss.

Wenn der Partner nicht mitzieht

Viele Frauen würden sich weitaus weniger vom Baby-Alltag in Haft genommen fühlen, wenn ihr Partner sie entlasten würde: „Das Problem ist, dass mein Freund unter der Woche sehr viel arbeitet und meistens erst gegen halb Acht daheim ist. Und am Wochenende möchte er dann gern etwas allein unternehmen, zum Beispiel Motorrad fahren“, klagt „Summerbreaze“. Lernt eine Frau fast zwangsläufig, beim Mutterwerden ihre eigenen Bedürfnisse hintan zu stellen, weigern sich viele Väter hartnäckig, diesen Schritt ebenfalls vorzunehmen. Sie glauben, ihr Beruf reiche aus, um sich vor dem Vaterjob weitgehend zu drücken. Nach Feierabend wünschen sie sich ihre Ruhe und am Wochenende ihre „Freiheit“. Wie anstrengend der 24-Stunden-Tag einer Mutter ist, wird dabei gern verdrängt: „Ich glaube, Männer respektieren unsere Arbeit nicht als richtige Arbeit. Mein Partner sagt immer, er hätte auch gern so viel Freizeit wie ich“, berichtet „Summerbreaze“. Manche Väter brauchen also Nachdruck, bevor sie sich einbringen. Die meisten von ihnen sind früh genug zu Hause, um ihrer Liebsten abends eine dreiviertel Stunde das Kind abzunehmen. Auch das Wochenende ist eine gute Gelegenheit für Väter, allein etwas mit ihrem Nachwuchs zu unternehmen, zum Beispiel einen Spaziergang oder eine Radtour mit dem Baby im Fahrradsitz. Um dies durchzusetzen, kann frau zunächst Verständnis für den anstrengenden Beruf des Partners äußern. Dann aber auch von ihrer Übermüdung und ihrem oft einseitigen Non-Stop-Alltag erzählen und konstruktive Vorschläge machen. Statt zu klagen: „Ich möchte, dass du mehr mithilfst“, sollte sie genauer werden: „Ich möchte, dass du abends das Kind badest/fütterst/ins Bett bringst.“

Mehr Freiraum auch ohne Fremdbetreuung

Die Partner können auch abwechselnd Babysitter sein, wenn der andere mal raus möchte. Oft gibt es keine Großeltern, die das Kind hüten können, und einem Teenager mag man sein Kind noch nicht gern anvertrauen. Dann bleibt es in den ersten Lebensjahren oft bei getrennten Unternehmungen der Partner - was oft gut funktioniert: „Da wir hier keinen geeigneten Babysitter greifbar haben, gehen wir öfters mal getrennt weg. Dann ist der andere immer zu Hause und passt auf die Kleine auf, während der andere um die Häuser ziehen kann“, berichtet eine Mutter aus dem urbia-Elternforum. Und auch Tanja aus einem anderen Forum erzählt zufrieden: „Ich habe zwei Töchter, und auch wir haben keine Großeltern in der Nähe. Ich komme gut zurecht, und mir macht das nichts aus. Ab und an gehe ich abends mal zu meiner Freundin, und mein Mann passt dann auf.“ Auch hier sollte man sich jedoch bei „störrischen“ Partnern durchsetzen: „Ich möchte öfters mal raus“ ist wenig Erfolg versprechend. Lieber sollte man konkret werden: „Ich möchte zukünftig einmal pro Woche zum Sport oder mit meiner Freundin los. Ich werde voraussichtlich um soundsoviel Uhr weggehen und bin dann und dann zurück.“ Im Gegenzug darf auch der Partner regelmäßig einer Freizeitaktivität nachgehen, um mal eine Auszeit vom Job und der Familie zu haben.

Keine Chance für hausgemachten Stress

Auch Perfektionismus ist bekanntlich ein Boden, auf dem Überforderung prächtig gedeiht. Ein Rat, den „Summerbreaze“ erhält, lautet daher: „Eine Wohnung muss nicht perfekt sein, man kann auch mal was liegen lassen, auch wenn das schwer fällt. Und diese Zeit (wenn das Kind schläft) einfach mit einem Film, einem Buch, dem Internet für sich selbst nutzen.“ Dieser ebenso simple wie gute Rat wird viel zu selten umgesetzt, weil Mütter schnell ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie einfach mal „nichts“ tun. Und eine andere Forums-Mama hat für sich festgestellt, dass es auch Einstellungssache ist, wie gut man mit dem Babystress klarkommt. Sie rät „Summerbreaze“: „Du musst lernen, dein Kind als deinen Lebensspaß zu sehen. Man kann so viel mit Kindern machen!“ In diesem einfachen Rat steckt eine gute Portion Lebensweisheit: Innerer Widerstand stresst. Sich dagegen auf Umstände, die sich momentan nur schwer ändern lassen einzulassen, bringt mehr Gelassenheit. Stress ist nach Meinung von Psychologen eigentlich nichts als ein anderes Wort für missglückte Anpassung. Entweder, weil man die stressenden Umstände nicht verändert. Oder weil man sich auf gegebene Umstände unzureichend einlässt. Hier ist ein sogenanntes „framing“ (engl.: mit einem neuen Rahmen versehen) hilfreich, bei dem man dieselbe Situation bewusst mit neuen Augen betrachtet.

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