Elternsorgen: Die Angst ums Kind
Nichts ist natürlicher als das Bedürfnis von Eltern, ihre Kinder vor Gefahren zu schützen. Gerade heute, da die Welt meist als noch bedrohlicher empfunden wird. Aber stimmt das eigentlich? Wo fängt übermäßiges Behüten an? Und wie können Eltern da bewusst gegensteuern?
Angst im Blick: Wo lauern überall Gefahren?
Etwa im fünften Monat der Schwangerschaft fing es an. Plötzlich wechselte ich die Straßenseite, um nicht am Haus mit den Dacharbeiten vorbeigehen zu müssen. Es könnte ja ein Ziegel herunterfallen. Von da an bemerkte ich immer häufiger eine Art „Scann“ Effekt – automatisch suchte ich meine Umgebung nach möglichen Gefahren ab. Dabei schienen mir all meine Sinne plötzlich ausgebildeter. Merkwürdig! Ich unterhielt mich mit anderen Schwangeren und ja - auch sie spulten Filme ab, die sie vor der Schwangerschaft nicht kannten. All die Bilder, die da blitzschnell hintereinander auftauchen, spiegeln die Sorge um den Nachwuchs wieder. Ich fragte mich, ob es sein könnte, dass irgendwelche Hormone Mütter zur Arterhaltung zu feinsinnigeren Wesen machen?
Fürsorge ist natürlich
Prof. Dr. Bernhard-Joachim Hackelöer erklärt, dass dies ein ganz natürliches Phänomen sei: „Genauso wie Hormone daran schuld sind, dass Schwangere seltsame Gelüste bekommen, sind es auch die Hormone, die den beschriebenen Schutzmechanismus aktivieren.“ Der Chefarzt für Geburtshilfe und Pränatalmedizin am Asklepios Klinik Barmbek in Hamburg berichtet, dass Frauen dadurch aufmerksamer würden und besser auf ihr Baby im Bauch aufpassten: „Die Risikobereitschaft nimmt bei den meisten Frauen ab, einige Schwangere ignorieren ihre natürlichen Instinkte allerdings und treiben weiter beispielsweise Hochleistungssport.“
Unsere biologische Bestimmung ist dafür verantwortlich, dass wir fürsorgliche Mütter werden und unserer Aufgabe, den Nachwuchs möglichst unbeschadet groß zu ziehen, gewissenhaft nachkommen. Was uns in der Schwangerschaft noch harmlos vorkommt, erwischt uns nach der Geburt eiskalt: Der Schutzinstinkt erwacht und fortan wollen wir das kleine Wesen vor allen Gefahren dieser Welt beschützen. Kleines Kinn, ein großer Kopf, runde Augen – ein bisschen Kindchenschema reicht aus und es ist um uns geschehen.
Übertriebene Ängste schaden dem Kind
Bis hierhin ist noch alles in Ordnung. Fürsorgliche Gefühle sind notwendig und evolutionsbiologisch gesehen völlig normal. Problematisch wird es nur, wenn die Sorgen so groß werden, dass sie dem Kind schaden. Und das tun übertriebene Ängste, denn sie hindern das Kind an seinem inneren Drang, selbständig und selbstbewusst zu werden. Der bekannte Kinderarzt Remo H. Largo berichtet in seinem Buch „Babyjahre“ über das Kind: „Die Entwicklung seines Selbstwertgefühls hängt davon ab, wie selbständig es sein kann.“
Dipl. Psychologe Klaus Eickmann aus Wuppertal erklärt, warum Eltern ihr Kind nicht „überbehüten“ sollten: „Die Ängste der Eltern und die damit verbundenen Einschränkungen für das Kind vermitteln ihm: ‚Ich kann das nicht schaffen.' Dieses Selbstkonzept ist langfristig schädlich für das Kind!“ Darüber hinaus lenke es die Aufmerksamkeit des Kindes von der eigentlichen Aufgabe ab, die es gerade bewältigt. "Prompt passiert etwas und wir haben eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.“
Das erklärt auch, was tagtäglich auf dem Spielplatz zu beobachten ist: Es stürzen vor allem die Kinder vom Klettergerüst, die zwei Minuten vorher gehört haben: „Pass auf – sonst fällst Du.“ Kinder erfüllen hier die Erwartungshaltung der Erwachsenen. Wenn die Mutter ängstlich nach dem turnenden Kind schaut, glaubt das Kind: „Oh je, ich kann das wohl doch noch nicht so gut wie ich dachte,“ und stürzt. Die Mutter wiederum fühlt sich bestätigt in ihrer Soge: „Siehst Du, ich habe es Dir doch gleich gesagt.“
Erfahrungen selbst machen lassen
Das „Machenlassen“ sollte schon früh beginnen. Gewiss fällt es vielen Eltern nicht leicht, gelassen zuzuschauen wie das „gefühlt gerade erst geborene“ Kind den Stuhl hochklettert. Immerhin wissen Erwachsene, was passieren kann und wie schmerzhaft ein Sturz ist. Trotzdem wird empfohlen, dem Kind die Möglichkeit zu geben, diese Erfahrung selbst zu machen. Wenn es sich weh tut, kann es fortan entscheiden, ob es den Versuch dennoch wieder wagen möchte. Sein stolzes Lächeln nach erfolgreichem Erklimmen des Hochstuhls ist der beste Beweis für Remo H. Largos These.
Auch ich kenne die „Oh Gott, das ist doch viel zu hoch für sie“-Situationen nur zu gut und helfe mir immer mit einem einfachen Trick: Ich gucke einfach weg wenn ich zu viel Angst habe. Wenn meine Tochter glaubt, dass sie von der Mauer springen kann, dann wird sie es wohl können. Und so ist es auch. Wenn Kinder ausreichend Gelegenheit bekommen, sich auszuprobieren, entwickeln sie ein sehr gutes Körpergefühl, werden mutiger und können prima alleine einschätzen, worauf oder worunter sie sich wagen können. Und wenn meine Kleine dann ein zweites Mal von derselben Mauer springt, kann ich auch hinschauen.
Natürlich gibt es auch bei uns schon mal aufgeschürfte Knie, aber wenn ich vorher weggesehen habe, kann ich mir wenigstens immer sicher sein, dass nicht ich den Sturz wegen übertriebener Ängstlichkeit zu verantworten habe.
Kinder lernen aus Misserfolgen
Darüber hinaus hält es Dipl.-Psychologe Klaus Eickmann für elementar, dass Kinder auch mal fallen und kleine Misserfolge erleben: „Scheitern ist wichtig. Daran wachsen Kinder.“ Menschen könnten es eben schlecht ertragen, dass diejenigen leiden, die sie lieben, dennoch gelte: Statt Kinder vor Schwierigkeiten zu bewahren, solle man sie lieber bei ihrer Bewältigung liebevoll unterstützen. Als Beispiel nennt er eine Busfahrt, die das Kind alleine machen soll. Zunächst müsse man einige Male mit dem Kind zusammen fahren und das Fahren mit dem Kaufen der Karte oder dem Ein- und Aussteigen „trainieren“. Dann aber könne das Kind irgendwann alleine fahren.
So sei es auch mit dem Weg zur Schule. Natürlich hänge es von der Strecke und dem Stand des Kindes ab, wann es alleine losziehen könne, aber spätestens in der Mittelstufe sollte es dazu in der Lage sein.
Bin ich überbehütend?
Wer nicht sicher ist, ob er sein Kind überbehütet, kann einmal einen kritischen Vergleich anstellen: „Wo mache ich mir mehr Sorgen, wo mache ich mir weniger Sorgen als andere? Sind alle anderen Kinder im gleichen Alter wesentlich selbständiger als mein Kind?“ Vor allem aber rät der Psychologe Müttern, in diesem Punkt ab und zu die Väter um Rat zu fragen. Sie könnten die Fähigkeiten des Kindes oft etwas realistischer einschätzen.
Vertrau Deinem Kind - oder schau es zumindest nicht angstvoll an! - diese Methode funktioniert ausgezeichnet bei Turn- und Kletterübungen. Das Vertrauen hilft auch, um die Angst vor einem Verkehrsunfall zu mindern: Wenn wir davon ausgehen, dass unser Kind sich im Straßenverkehr so verhält, wie wir es gemeinsam geübt haben. Selbst der Angst vor sexuellem Missbrauch können wir so Herr werden: Wir können uns sagen, dass wir das Kind stark gemacht haben mit unserer Erziehung. Wir akzeptieren sein „Nein“ als „Nein“ und gehen vertrauensvoll davon aus, dass es deshalb auch zu sexuellen Übergriffen „Nein“ sagen wird.
Wie aber sieht es aus, wenn wir uns sorgen, dass unseren Kindern etwas geschieht, worauf sie selbst keinen Einfluss haben? Was nützt mein Vertrauen, wenn mein Kind in ein Auto gezerrt wird oder von einem Betrunkenen angefahren wird oder wenn es an Krebs erkrankt?
Die Angst wächst, die Gefahr nicht
Die Angst vor Entführung, Vergewaltigung oder einer lebensbedrohlichen Krankheit wächst, obwohl beispielsweise die Zahl der gemeldeten sexuellen Missbrauchsfälle rückläufig ist. So waren es laut Statistik des Bundeskriminalamtes im Jahr 2014 14.395 Fälle von sexueller Gewalt gegenüber Kindern - das ergibt im Vergleich zum Vorjahr einen Rückgang von drei Prozent. Auch hat sich die Zahl der getöteten Kinder (108 im Jahr 2014) im Vergleich zum Jahr 2013 um fast 30 Prozent verringert. Aber sind diese Zahlen wirklich eine Beruhigung für ängstliche Eltern, die dazu neigen, so zu denken: Auch wenn es unwahrscheinlich ist, so kann es doch jeden treffen.
Hinsichtlich einer Entwicklung sind allerdings auch Experten besorgt: Nach einer deutsch-finnischen Studie eines Forschungsverbundes zum Missbrauch von Kindern berichteten 8 Prozent der befragten 2.000 Kinder und Jugendlichen von mindestens einer belastenden sexuellen Belästigung in Online-Medien. Erstaunlich: Nur etwa 14 Prozent von ihnen brachen danach gleich den Online-Kontakt ab, die anderen hielten ihn noch eine Weile aufrecht oder trafen sich sogar mit den Online-Bekanntschaften - ohne Wissen der Eltern.
Hier gilt deshalb nicht nur für überbehütende Eltern: Bleiben Sie mit Ihren Kindern in Kontakt, zeigen Sie Interesse für deren Medienvorlieben und fragen Sie nach Seiten, Portalen und Foren, die Ihre Kinder häufig aufsuchen. Wenn Sie sich im Umgang mit den neuen Medien nicht fit genug fühlen, erkundigen Sie sich nach Infoveranstaltungen zu den Möglichkeiten der Internetnutzung - und wie Sie sinnvolle Grenzen ziehen können.
Tipps gegen die Angst
Doch grundsätzlich gilt: „Wir sollten den Kindern keine Atmosphäre von Angst vermitteln, so dass ihnen die Welt böse und gemein vorkommt. Im Gegenteil werden unsere Kinder dann zu selbstbewussten Menschen wenn sie mit dem Gefühl aufwachsen, dass ihre Umwelt eine gute ist", meint auch Paula Honkanen-Schoberth vom Deutschen Kinderschutzbund. Wenn sie außerdem von klein auf einbezogen würden in alltägliche Aufgaben wie waschen oder kochen, dann entwickelten Kinder ein gutes Selbstwertgefühl. Mit diesem Gefühl und der Gewissheit: „Meine Eltern vertrauen mir“, könne man ein Kind dann später auch alleine zum Einkaufen oder zur Schule schicken. Ängstlichen Eltern, die an sich arbeiten wollen, rät die Autorin des Buches „Starke Eltern brauchen starke Kinder“, ihre Bedenken mit ihren Kindern ruhig offen zu besprechen: „Weißt Du, ich bin da manchmal ängstlich, aber ich traue es dir zu. Wie siehst du das selber?“
Diplom Psychologe Klaus Eickmann ist ebenfalls der Meinung, dass Eltern zu ihren Ängsten stehen können: „ Es liegt in der Natur der Sache, dass Eltern diese Ängste haben.“ Damit sie sich sicherer fühlen, sollten sie ihren Kindern Verhaltensregeln mit an die Hand geben: „Man darf nicht mit Fremden mitgehen,“ beispielsweise oder: „Wenn Du Hilfe brauchst, frage einen Polizisten.“ Außerdem ist er überzeugt davon, dass Kinder selbst ein gutes Gefühl für Gefahren haben: „Sie merken, wenn eine Situation für sie gefährlich ist, wenn Eltern nicht immer wieder versuchen, ihnen ihre Ängste auszureden.“ Sein Rat: „Nehmen Sie ihr Kind ernst wenn es Ängste äußert, damit unterstützen sie sein Gefühl für Gefahren. Dann kann es sich in einer solchen Situation auch selbst besser zur Wehr setzen.“
Unbeschwerte Kindheit
Unsere Welt mag uns durch die vielen Medienberichte zwar gefährlicher vorkommen als zu Zeiten unserer eigenen Kindheit, vertraut man der Statistik, so ist sie es in Wirklichkeit aber nicht. Lediglich im Straßenverkehr haben wir mehr Anlass uns zu sorgen als unsere Eltern.
Und nun versetzen Sie sich kurz in Ihre eigene Kindheit und denken Sie daran, was Sie als Kind schon alles durften und wie viel Spaß Ihnen diese Dinge gemacht haben. Sie haben bestimmt auf der Straße mit anderen Kindern gespielt, sind ohne Aufsicht durch den Wald gezogen, waren unterwegs als „Räuber und Gendarm“ oder sind vielleicht sogar alleine mit anderen Kindern zum See geradelt. Selbst wenn wir uns nicht trauen, das alles zuzulassen, so doch zumindest ein kleines bisschen davon. Denn unsere Kinder sollen sich doch später auch an das Gefühl von Freiheit und Selbständigkeit erinnern können, oder?
Lesen Sie dazu auch bei urbia: Sexueller Missbrauch - wie kann ich mein Kind schützen?
Infos:
„Starke Kinder brauchen starke Eltern", Der Elternkurs des Deutschen Kinderschutzbundes, Urania Verlag, ISBN-13: 978-3332013467