Gibt es die "richtige" Erziehung?
Leider ist das Wissen über die richtige Kindererziehung nicht angeboren. Also brauchen wir Rat, Tipps und Hilfe. Aber wie sich zurechtfinden im Dschungel der Erziehungs-Konzepte? urbia gibt hier ratlosen Eltern Überblick.
- Erziehungswissen ist leider nicht angeboren
- Verwirrende Vielfalt an Erziehungsmodellen
- Allgemeingültige Erziehungs-Grundsätze
- Verstehen anstelle von Patentrezepten
- Genau hinsehen, wie es zum Widerstand des Kindes kam
- Beispiel: Extremes Matschen im Essen
- Die wahren Bedürfnisse von Kindern erkennen
- Weiterführende Tipps
Erziehungswissen ist leider nicht angeboren
Supermarktkassen, vor denen sich ein vom Trotz geschütteltes Kleinkind kreischend auf dem Boden wälzt, gab es zwar in der Steinzeit noch nicht. Wahrscheinlich haben aber schon die Höhlenkinder morgens ein ohrenbetäubendes Protestgeschrei angestimmt, wenn ihre Mütter es ihnen verweigerten, bei minus acht Grad nur in ihrem kurzärmeligen Höhlenlöwenfell-Shirt zum Spielen nach draußen zu gehen. Denn das Streben eines Kindes nach Selbständigkeit und Loslösung ist in seinen Erbanlagen programmiert. Und da wir uns genetisch seit etwa 170 000 Jahren kaum verändert haben (denn so lange gibt es den heutigen Homo sapiens sapiens schon), sind die kindlichen Attacken gegen die Bastionen elterlicher Autorität wohl beinahe so alt, wie die Menschheit selbst. Leider ist jedoch im Gegensatz dazu das Wissen, wie man als Eltern mit dem sich verweigernden Nachwuchs umzugehen hat, noch nicht bis in unser Erbgut vorgedrungen. So dass wir bedauerlicherweise nicht über ein angeborenes Knowhow darüber verfügen, wie man denn beispielsweise ein Kleinkind, das sich tagtäglich standhaft weigert, sich seine Schuhe anzuziehen, von der Vernünftigkeit dieses elterlichen Wunsches überzeugen könnte.
Verwirrende Vielfalt an Erziehungsmodellen
Ein Dschungel an Ratgebern so genannter Erziehungsexperten (und das recht junge Format der TV-Nanny) soll da Abhilfe schaffen: Millionen Euro wurden und werden seit Jahrzehnten verdient beim Verkauf angeblich garantiert wirksamer Anleitungen zum harmonischen Leben mit Kind. "Lernen aus den Folgen" statt Strafe, "Ich-Botschaften" statt Schimpfen, "Auszeit" statt Stubenarrest – die Fülle der Erziehungsmodelle für stressgeplagte Eltern ist groß. Ihnen ist gemeinsam, dass die darin verkauften Ratschläge nur manchmal funktionieren. Wenn überhaupt. Natürlich möchte niemand zurück zur absolutistischen Alleinherrschaft der Eltern früherer Generationen. Doch wie die entstandene Lücke zu füllen sei, darüber ist man sich auch fast 40 Jahre nach dem glorreichen Aufstieg (und leisen Untergang) der "Antiautoritären Erziehung" nach Alexander S. Neill nicht einiger geworden. Den einen kann die Eltern-Kind-Beziehung gar nicht genug durchanalysiert sein ("Die Familienkonferenz" nach Thomas Gordon), andere versprechen mit scheinbar simplen, aber umstrittenen Methoden rasche Lösungen, wie etwa beim Schreienlassen von Babys und Kleinkindern nach Stoppuhr bei Schlafproblemen (nach dem Amerikaner Prof. Richard Ferber). Verunsicherte Eltern wechseln oft mehrmals täglich die Methode, um am Ende nicht selten doch entnervt beim Kasernenhof-Ton der Altvorderen zu landen. Auch sind manche Erziehungsmodelle nicht viel mehr als schlecht kaschierte Neuauflagen des Althergebrachten. So ist die oft propagierte "Auszeit" kaum etwas anderes als das alte "Du gehst jetzt auf dein Zimmer und denkst über dein Betragen nach!"
Allgemeingültige Erziehungs-Grundsätze
Gibt es denn nicht doch Allgemeingültiges zum Thema Erziehung? Feste Rettungsanker, die sich im Alltag bewähren? Jenseits ihrer unterschiedlichen Systeme sind sich die meisten Fachleute in Sachen Erziehung wenigstens in drei groben Punkten einig:
- Kinder brauchen Eltern, die sich jeden Tag mehrmals wirklich konzentriert für sie Zeit nehmen.
- Kinder brauchen Eltern, die versuchen, sich ins kindliche Weltbild herein zu versetzen und ihnen nicht ihre eigenen Wertungen aufstülpen.
- Kinder brauchen feste Regeln und Grenzen, um sich in ihrer Welt orientieren zu können und Halt zu finden.
Für die konkreten und oft enervierenden Widrigkeiten des Alltags mit Kindern reichen diese allgemeinen Grundsätze aber oft nicht aus. Was zum Beispiel tun, wenn ein Kind sich allmorgendlich beharrlich weigert, seine Socken anzuziehen, sich die Zähne putzen zu lassen, wenn es also tagtäglich mit seiner Trödelei Sand ins Getriebe des elterlichen Zeitplans wirft? Eine zuverlässige Gebrauchsanweisung für das Leben mit Kind gibt es leider nicht wirklich. "Der Mensch ist auch im Computer-Zeitalter kein lösbares Rätsel geworden", dämpft Ursula Neumann, Psychotherapeutin und Erziehungsberaterin, überzogene Erwartungen. Die Autorin des angenehm undogmatischen Bestsellers "Wenn die Kinder klein sind, gib ihnen Wurzeln, wenn sie groß sind, gib ihnen Flügel" lehnt jede Art von Vereinfachung ab. "Ich habe in meiner langen Arbeit mit Familien gesehen, dass es keine simplen Lösungen gibt. Man muss bei jedem scheinbaren Problemverhalten des Kindes zunächst die gesamte Situation anschauen."
Verstehen anstelle von Patentrezepten
Die Therapeutin setzt also auf das Verstehen des kindlichen Verhaltens, statt auf Patentrezepte. Die oft mechanistischen Erziehungsmodelle nach dem Prinzip: "Wenn Ihr Kind dies macht, tun Sie am besten jenes", können nicht funktionieren, so Neumann. Wenn Eltern bei ihr Rat suchen, beobachtet die Erziehungsberaterin zunächst gründlich und zugleich beiläufig die Beziehungen und den Umgang aller Familienmitglieder untereinander, und richtet den Fokus nicht nur auf das Verhalten des Kindes. "Ich stelle dabei oft fest, dass Eltern ihre Kinder missverstehen, weil sie dem Kind von vornherein eine bestimmte Bewertung aufdrücken, statt seine Signale unvoreingenommen wahrzunehmen." So werde ein Kind in bestimmten Situationen rasch als "schwierig", "trotzig" oder "bockig" abgestempelt. Eine unvoreingenommene Sichtweise könne man aber lernen. Entscheidend ist zunächst, dass Eltern Wertungen vermeiden. Also nicht sofort mit ihren Erwachsenmaßstäben zur Hand sind und beispielsweise sagen, das Kind matscht mal wieder absichtlich oder es möchte uns jetzt schikanieren. Diese Interpretationen entsprächen nicht der Wesensart eines kleinen Kindes. Eltern könnten lernen zu verstehen, dass ein Kind in dieser Situation gerade dies tun muss, "denn Kinder sind ihren Bedürfnissen regelrecht ausgeliefert."
Die Erziehungsberaterin lehnt daher das Wort "Trotz" und den davon abgeleiteten Begriff "Trotzphase" ab, weil er dem Verständnis kindlichen Verhaltens im Wege stehe: "Diese frühe Zeit der Bedürftigkeit des Kindes nach eigenständiger Lebensgestaltung hätte einen Namen verdient, der den Erwachsenen keine Angst mehr einflößt vor dem Widerstand und der Beharrlichkeit ihrer kleinen Kinder. Denn in dieser Bedürftigkeit meldet sich der dem Menschen innewohnende Impuls an, mitzugestalten und mitzuentscheiden in dieser Welt." Und sie erklärt dazu: "Ein Kind könnte sich nicht zu einem eigenständigen Menschen entwickeln, wäre es nicht mit dieser Kraft ausgestattet." Wenn Eltern also verstünden, dass der Widerstand ihres Kindes etwas Notwendiges und Gutes sei, könnten sie verständnisvoller und konstruktiver damit umgehen.
Genau hinsehen, wie es zum Widerstand des Kindes kam
Wie aber könnte ein konstruktiver Umgang aussehen? Oft züchten sich Eltern kleine Trotzköpfe selbst heran, indem sie eigene Impulse des Kindes unterdrücken, so die Erfahrung der Psychotherapeutin. Ein Beispiel hierfür schildert sie in ihrem oben genannten Buch: Das Kleinkind, das bei jedem Duschen einen Kampf mit den Eltern zu inszenieren scheint. Oft habe das Kind lange bevor es hier eine Verweigerungshaltung einnimmt, versucht, konstruktiv mit seiner Furcht vor dem Duschen umzugehen: Es wollte es selbst machen. Leider übergingen viele Eltern diesen Wunsch und beharrten darauf, allein zu bestimmen, weil ihr Kind angeblich noch zu klein sei, sich selbst abzuduschen. "Prächtig ist dieses Angebot des Kindes, es selbst zu tun", so Neumann, weil es bereits einen konstruktiven Beginn darstelle, ins Duschen einzuwilligen. Ließen Eltern diese Chance vorüberziehen, sei es kein Wunder, wenn sich das Kind in Zukunft innerlich gegen den elterlichen Wunsch verhärte. Dieses Beispiel lässt sich auf viele alltägliche kindliche Verweigerungen anwenden. Ein Kind, das seine Kleidung aus mehreren Alternativen aussuchen darf, das sich weitgehend selbst anziehen darf (auch wenn das Ergebnis anfangs unbefriedigend aussieht) oder das im Supermarkt helfen kann, die Waren in den Einkaufswagen zu geben, wird bereitwilliger mitmachen und sich weniger den elterlichen Wünschen verweigern.
Beispiel: Extremes Matschen im Essen
Auch andere Beispiele aus dem Alltag mit Kindern lassen sich aus einem neuen elterlichen Blickwinkel besser verstehen. Als Beispiel nennt Neumann das vielbeklagte Matschen der Kinder im Essen. Das Matschen im Essen sei in einem bestimmten Alter etwas Normales und Wichtiges, das ein Kind gar nicht vermeiden könne, erläutert sie. "In der Wahrnehmung des Kindes matscht es [das Essen] sich ganz von selbst." Schelte sei hier Fehl am Platz. Wenn die Matscherei aber extreme Ausmaße annehme oder nicht mehr zum Alter und den motorischen Fähigkeiten des Kindes passe, könne auch ein Hilferuf dahinterstecken. "Es gibt Eltern, die – als Folge ihrer eigenen Biografie - einen gefühlsarmen, distanzierten und kühlen Umgang mit dem Kind haben, weil sie fürchten, es zu verwöhnen", so Neumanns Beobachtung. Dieses Zuwenig an körperlicher Zuwendung und Zärtlichkeit könne sich beim Kind darin äußern, dass es noch tagtäglich Matsch-Orgien mit dem Essen veranstaltet, obwohl es längst in der Lage wäre, den Löffel geschickter zu verwenden. "Matschen allgemein und auch das Panschen im Essen ist ja etwas grundlegend Sinnliches. Im genannten Fall kann es dem Kind als eine Art Ersatz für körperliche Berührungen dienen", erklärt die Erziehungsberaterin.
Die wahren Bedürfnisse von Kindern erkennen
Auffälliges Verhalten sollte nie pauschale elterliche Strenge zur Folge haben, so die Fachfrau. "Verhaltensauffälligkeiten, sobald sie anhalten, müssen als ‚Steckenbleiben’ auf dem Entwicklungsweg eines Kindes verstanden werden." Und wer stecken bleibe, brauche Hilfe – und keine Kritik oder Bloßstellung.Wenn man als Eltern übe, das Kind wirklich anzuschauen, entwickle man ein Gefühl für seine wahren Bedürfnisse. "Viele sind überrascht, welche Signale ihr Kind unmissverständlich aussendet, wenn sie einmal Abstand nehmen und nur hinschauen statt zu bewerten." Bei dieser Übung unterstützt die Therapeutin die Eltern. Überhaupt ist es das A und O für Neumann, dass Eltern mehr über die Bedürfnisse der Kinder lernen. "Eltern müssen wegkommen vom alles bestimmenden Leistungsgedanken", so Neumann. "Man darf sein Kind nicht ständig mit anderen Kindern vergleichen, wie es leider die meisten Eltern tun. Kinder wollen so angenommen sein, wie sie sind. Sie wollen beim Essen kleckern dürfen, sie wollen nicht nur spielen, sondern auch mithelfen dürfen (und damit wichtig sein), sie wollen Angst und Wut nicht verstecken müssen. Sie wollen die Welt erkunden dürfen, ohne für jeden Einfall gleich den Stempel 'richtig' oder 'falsch' zu erhalten. Und sie brauchen Zuwendung, besonders körperliche." Spielzeughalden im Kinderzimmer brauche ein Kind dagegen nicht.
Was könnte ein neuer Blick nun im Fall der morgendlichen Trödelei vieler Kinder bedeuten, über die die meisten Eltern in schöner Regelmäßigkeit die Geduld verlieren? Ein Kind, das morgens nur aufreizend langsam den mütterlichen Aufforderungen nachkommt, wehrt sich vielleicht gegen die allgemeine Hektik dieses Tagesbeginns. Jüngere Kinder haben nur wenig Zeitgefühl, und das Verständnis für unsere alles bestimmende Eile fehlt ihnen ganz. Wenn ein Kind zum zwanzigsten Male ungeduldig zum Milchaustrinken, Zähneputzen, Schuhe anziehen ermahnt wird, ist das Trödeln vielleicht nichts als eine Notbremse, um dem Bedürfnis nach einer langsameren Gangart Gehör zu verschaffen. Hier ist also eine Veränderung des elterlichen Blickwinkels tatsächlich hilfreich: Nicht mein Kind ist zu langsam, sondern ich bin zu schnell. Die Lösung: Früher aufstehen, mehr Zeit einplanen, dem Kind sein eigenes Tempo lassen und den Versuch aufgeben, es innerhalb weniger Lebensjahre in die Atemlosigkeit des 21. Jahrhunderts katapultieren zu wollen. So einfach kann Erziehung sein. Manchmal.
Weiterführende Tipps
Literaturtipp: "Wenn die Kinder klein sind, gib ihnen Wurzeln, wenn sie groß sind, gib ihnen Flügel" von Ursula Neumann, dtv;"Lass mich Wurzeln schlagen in der Welt. Von den seelischen Bedürfnissen unserer Kleinsten", Ursula Neumann, Kösel
Elternkurse
Um im Alltag mit Kindern neue Lösungen zu finden, sind auch Elternkurse nach dem Konzept "Starke Eltern – Starke Kinder" des Deutschen Kinderschutzbundes oder dem sog. STEP (engl. für: Systematisches Training für Eltern) Programm empfehlenswert. Sie setzen im Gegensatz zu vielen anderen Angeboten nicht auf Patentrezepte nach recht starren Schemata, sondern helfen Eltern, die Signale ihrer Kinder richtig zu interpretieren. So werden bei den alltäglichen Konflikten gemeinsam und demokratisch Lösungen entwickelt, mit denen beide Seiten sich respektiert und geachtet fühlen können.
Infos zu den Elternkursen "Starke Eltern – Starke Kinder" gibt es beim Deutschen Kinderschutzbund, Bundesverband e.V., Bundesgeschäftsstelle Schiffgraben 29, 30159 Hannover, Tel. (05 11) 3 04 85-0, Fax (05 11) 3 04 85-49, Internet: www.dksb.de, E-Mail: info@dksb.de
Nähere Informationen über STEP-Kursangebote und Kursorte gibt es im Internet unter www.instep-online.de.