Konsumfalle Kinderzimmer
Je mehr man sein Kind liebt, desto mehr Spielzeug kauft man ihm? Unterschreiben würde das kaum jemand, und doch scheinen viele Eltern danach zu handeln. Wie kommt man aus der Konsumfalle Kinderzimmer wieder heraus?
Spielzeughalden – eine recht neue Erscheinung
„Als ich ein Junge war, besaß ich einen Bagger aus Holz, eine Steinschleuder, ein paar Kuscheltiere, ein Schachspiel, für das ich das Brett selbst bemalt hatte, einen Metallbaukasten, auf den ich unheimlich stolz war, ein Taschenmesser, eine kleine Tasche mit echtem Werkzeug, ein Fahrrad und ein paar Kinderbücher“, erinnert sich Maries Opa Werner (72). „Echt? Nur so wenig?“, fragt die zehnjährige Enkelin fassungslos. Wer sich nämlich einen Weg durch Maries Kinderzimmer bahnen möchte, tut gut daran, einen Schneepflug mitzubringen. „Ich habe damals aber rein gar nichts vermisst. Ich bin immer gleich nach der Schule nach draußen gegangen, habe mit Freunden gebolzt, mit einfachen Haken geangelt, neue Ställe für meine Hasen gebaut. Oder auch mal den Nachbarn Streiche gespielt“, erzählt Werner weiter.
Die richtige Wahl: Haben oder Sein?
Durchschnittlich 550 EUR geben Eltern inzwischen monatlich für die Kinder aus, wie das Statistische Bundesamt errechnete. Und hier geht es nicht nur um Lebensnotwendiges wie Miete oder Möbel, Nahrung und Kleidung – auch Spielzeug, Handys und Unterhaltungselektronik werden von Eltern freiwillig teuer bezahlt.
Mehr Spielzeug bedeutet aber – wir wissen es eigentlich längst – nicht auch ein zufriedeneres Kind. Viele Kinder sind so übersättigt, dass sie sich nur noch kurz über Neues freuen. Doch der Überfluss hat noch ernsthaftere Nebenwirkungen. Ein Mensch müsse sich entscheiden zwischen dem Haben und dem Sein, befand Erich Fromm schon vor drei Jahrzehnten in seinem gleichnamigen Werk. Das „Haben“ definiert dabei den Menschen als Konsumenten: Es geht ihm nur um vorübergehende Befriedigung. Er identifiziert sich immer nur kurz mit modernen Gegenständen, deren Haupteigenschaft es ist, überholt und beseitigt zu werden. Doch auch Anderes wird so für ihn leicht austauschbar: Dinge, Einstellungen, Freunde, sogar Liebespartner. Auch der Mensch selbst wird auf diese Weise austauschbar. Er wird laut Fromm zur „Ware auf dem Persönlichkeitsmarkt“, die sich vorteilhaft präsentieren muss und glaubt: Ich bin nur, was ich habe.
Fromm warnt: Wem das Haben das Wichtigste ist, der stellt rasch auch die Erfordernisse der Wirtschaft über die Bedürfnisse der Menschen, beutet die Natur aus, sieht andere Menschen als Konkurrenten, und ist kaum fähig, Leid seiner Mitmenschen wahrzunehmen und zu lindern.
Teens finden Aussehen wichtiger als Charakter
Aber ist das nicht zu weit gedacht? Nur, weil man nicht möchte, dass das eigene Kind hinter anderen zurücksteht, wird es ja wohl nicht gleich ein oberflächlicher Mensch werden, oder? Aber schaut man sich die Realität an, so funktioniert die Selbstberuhigung nicht mehr: Heute muss schon der Gesetzgeber Teenies unter 18 daran hindern, sich überflüssigen und teuren Schönheitsoperationen zu unterziehen. Und 70 Prozent aller Jugendlichen gaben in einer Studie des Marktforschungsinstituts icon kids and youth (2009) an, dass sie glauben, dass das Aussehen in Zukunft wichtiger werde als der Charakter. Dieselbe Studie ermittelte auch, dass Teenager zwischen 12 und 18 Jahren bereits durchschnittlich 130 Marken kennen.
Konsum wird zu einer wichtigen Quelle für den Selbstwert der Heranwachsenden, warnt deshalb der Soziologe und Pädagoge Prof. Klaus Hurrelmann von der Universität Bielefeld. Doch dieses erkaufte Selbstwertgefühl ist auf Sand gebaut und trägt nicht. „Die Kindheit und noch mehr die Pubertät sind sehr kritische Phasen, in denen es wichtig ist, ein gesundes Selbstbewusstsein zu entwickeln“, betont der Wissenschaftler und Buchautor. Besonders gefährlich wird ein nur aus dem „Haben“ abgeleitetes Selbstwertgefühl, wenn ein Jugendlicher Probleme hat: Die Fixierung auf den Konsum könne zum vermeintlichen Ausweg werden, „wenn Jugendliche in finanziell bedrängten Verhältnissen aufwachsen, Familiendramen erleben oder in der Schule schlecht sind“, so Hurrelmann.
Wer daddelt, stört nicht
Dass Kinder und Jugendliche sich zunehmend über das definieren, was sie haben, ist nicht verwunderlich. Denn die Industrie gibt jährlich mehrere hundert Millionen Euro für Werbung aus, die sich zielgerichtet an Kinder und Jugendliche richtet. Und das funktioniert prima, vom Schokoriegel bis zur Spielkonsole lassen sich die Wünsche der Kinder (die diese dann energisch an die Eltern weitergeben) fast beliebig steuern. So verdiente die Firma Nintendo allein an ihren weltweit 150 Millionen verkauften Nintendo DS-Geräten (Stand Juni 2011) Milliarden Dollar, denn spätestens im Schulalter ist eines der über 100 EUR teuren Geräte nicht nur hierzulande ein „must have“.
Ganz selbstlos ist der Kauf von Spielzeug und Elektronik durch die Eltern dabei nicht. Ein Kind, das mit neuem Spielzeug beschäftigt ist oder am Mini-Computer daddelt, ist oft über Stunden hinweg angenehm ruhig, kommt nicht ständig angelaufen, macht keinen Schmutz und keine Unordnung – kurz: Es stört nicht. Und wo Zeit chronisch knapp ist, soll Spielzeug das Kind oft auch über den Zeitmangel der Eltern hinweg trösten. „Die Motive für das Schenken und das Kaufen liegen oft im schlechten Gewissen der Eltern“, so auch die Publizistin Gerlinde Unverzagt (Konsum-Kinder – was fehlt, wenn es an gar nichts fehlt) in einem Interview.
Kein Weg führt nach Bullerbü
Doch was tun? Sollen wir zurückkehren in die Zeit der Kinder aus Bullerbü: zu Weihnachten nur Lebkuchen, Apfelsinen und Walnüsse schenken und zum Geburtstag praktische Stricksocken und ein selbst geschnitztes Holzpferdchen? Diese Lösung wäre wohl allenfalls etwas für Aussteiger oder strenggläubige Religionsgemeinschaften. Was Familien aber tun können: „den Blick auf Dinge richten, die man nicht mit Geld kaufen kann. Kinder müssen wieder lernen, auf ihre Fähigkeiten zu vertrauen“, so Gerlinde Unverzagt. Doch wie lenkt man den Blick des Kindes in die richtige Richtung?
Wichtig ist dabei, darin sind sich Entwicklungspsychologen einig, dass Kinder Zeit von ihren Eltern bekommen. Jede gemeinsame Unternehmung, jedes kleine gemeinsame Projekt, und sei es nur die Anfertigung einer schönen Tisch-Deko fürs nächste Familienfest, ist unendlich wertvoller als der Kauf des immer nächsten Spielzeugs. Kinder wollen nicht nur spielen. Sie wollen auch wichtig für die Familie sein und Verantwortung übernehmen dürfen. Schon kleine Kinder können zu Hause ein wenig mithelfen und tun dies meist noch mit ungebrochener Begeisterung (Staubsaugen, Geschirr in die Spülmaschine stellen, ein Tier füttern).
Ältere Kinder können durch kleine Eigenleistungen nicht nur mithelfen, sondern außerdem ihr Taschengeld aufbessern: den Rasen mähen, im Urlaub den Garten des Nachbarn gießen, dessen Katze hüten oder Babysitterdienste übernehmen. So lernen Kinder ganz nebenbei auch, dass Geld nicht im Geldautomaten gedruckt wird, sondern erarbeitet werden will - und manchmal auch gespart werden muss, bevor es ausreicht, um sich einen größeren Wunsch zu erfüllen.
Anderen etwas zu geben macht reich
Auch, wer sich für eine gute Sache einsetzt, wird resistenter gegen die hohlen Verlockungen des Konsums. Das muss nichts Großes oder Zeitraubendes sein: Ein Vorsingen oder kleines Blockflötenkonzert in einem Altenheim löst zuverlässig Freude bei den alten Leuten aus und macht das Kind stolz. Und es verschafft ihm einen Einblick in die Wirklichkeit des Lebens, das nicht nur aus dem schönen Schein, sondern auch aus Hilfsbedürftigkeit, Schwäche und Krankheit besteht. Ältere Kinder können sich den örtlichen Pfadfindern anschließen und dort nicht nur lernen, wie wichtig gute Taten sind, sondern auch gemeinsam Spaß haben, ohne dass dafür zuvor etwas gekauft werden müsste. Gleiches gilt in kirchlichen Jugendorganisationen, bei den Kindergruppen der Tierschutzvereine oder bei der freiwilligen Feuerwehr, die ebenfalls oft schon Kinder ab zehn Jahren aufnimmt.
So erfüllen sich auch die wichtigsten von Erich Fromms Forderungen für ein Leben im „Sein“ (statt nur für das „Haben“): dass Gegensätze zwischen den Menschen durch Solidarität ersetzt werden, und dass es das oberste Ziel einer Gesellschaft sein müsse, menschliches Leid zu verhindern und das Wohlsein zu mehren.
Achtung, spielzeugfreie Zone!
Dass man tatsächlich auch ohne Spielzeugberge überlebt, erfahren Kinder auch, wenn sie mal eine Zeit lang auf sie verzichten. Die wichtigsten und vollsten Spielzeugkisten können für eine Woche in den Keller wandern, oder elektronisches Spielzeug wird abgeschaltet (nach Absprache mit dem Kind). Stattdessen gibt es – je nach Alter - Angebote für gemeinsame Aktivitäten: Auf dem Balkon einen kleinen „Teich im Bottich“ anlegen, im Wald Männchen aus Zweigen legen, am Bach einen „Steinmann“ aus flachen Flusskieseln aufschichten, ein Floß aus Kork oder Zweigen binden und mit einem Papiersegel versehen, ein Häuschen fürs Meerschweinchen zimmern, eine alte Kommode abschleifen und bunt bemalen, eine Vogelwanderung unternehmen (bewaffnet mit einem Bestimmbuch), Blumen pressen, Insekten sammeln und sprichwörtlich unter die Lupe nehmen, eine Trommel selbst herstellen, das Kinderzimmer gemeinsam anstreichen, eine komplizierte Luxustorte backen (und den Herstellungsprozess auf Fotos festhalten). Wer weniger Zeit hat, kann einen Werktisch bereitstellen, auf dem Malzeug, Kleber, buntes Tonpapier, Holzstäbe, Laub, Glitzer- oder Goldpapier bereit liegen. Auch der beschäftigt junge Künstler oft lange Zeit allein.
Bücher - der natürliche Feind des Konsums
Dem Konsumrausch von Kindern ein Schnippchen schlagen kann auch, wer sie rechtzeitig zu Leseratten ausbildet: Bücher entführen ein Kind stundenlang in fremde Welten, ohne es bei Überdosierung zu verdummen. Wer seinem Kind schon im Vorschulalter viel vorliest, mit ihm auch im frühen Lesealter noch abwechselnd liest (und den Bildschirmkonsum möglichst knapp hält), wird meist belohnt: dadurch, dass das Lesen mit der Zeit zum Selbstläufer wird. Und selbst wenn ein Kind kein Bücherwurm wird, ist doch jede Stunde mit einem spannenden Buch eine gewonnene Stunde. „Wer liest, ist für den Konsum-Kapitalismus ein Totalausfall“, bringt es Susanne Gaschke, Autorin des Buches Die Erziehungskatastrophe, auf den Punkt.
Die Liebe zum Kind verträgt auch mal ein Nein
Natürlich können wir unsere Kinder nicht zu 100 Prozent gegen Konsumwünsche immunisieren. Das ist auch nicht nötig. Eltern können aber eine zögerliche und spröde Haltung einnehmen, wenn es um den richtigen Pudding oder die einzig wahre Schuhmarke geht. Diese Zurückhaltung übt auch Katharina Merzbach: „Ich habe immer Angst, die ‚Büchse der Pandora‘ zu öffnen, also zu schnell etwas zu kaufen. Denn dann kommt eins zum anderen und man kann nur noch schwer Nein sagen“, findet die Mutter dreier Mädchen. Deshalb versuche sie, einen Mittelweg zu gehen. „Neulich wollte meine Sechsjährige eine Röhrenjeans. Ich fand das überflüssig in ihrem Alter, habe sie ihr aber schließlich gekauft. Denn ich dachte, wenn ich dieses Mal nachgebe, kann ich bei etwas anderem, das mir wichtiger ist als die Jeans, auch leichter Nein sagen.“
Schenkfreunde der Verwandten sinnvoll lenken
Eltern müssen sich oft auch Großeltern, Tanten, Onkel und Paten vornehmen, damit ihr Kind nicht beim nächsten Anlass doch wieder unter einem Berg aus Überflüssigem zu verschwinden droht. „Ich gebe rechtzeitig Listen an die Verwandten heraus: eine ‚Was braucht das Kind-Liste‘ und eine ‚Worüber würde sich das Kind freuen-Liste‘“, berichtet eine Forums-Mutter im Internet. Die Verwandten und Freunde suchen sich dann eine Sache aus, die sie schenken möchten.“ Planung ist auch für eine andere Userin das A und O: „Wir machen es so, dass nur Mama und Papa Geschenke mit Spielzeug machen, und zwar entweder ein großes oder zwei kleine. Oma und Opa verschenken an unsere beiden Jungs dagegen nur noch Gutscheine für einen gemeinsamen Tag, also Schwimmbad, Museum, Zoo, dazu noch etwas Kleines bis zu fünf Euro. Es hat viele Diskussionen gekostet, aber es läuft mittlerweile super.“
Noch einen Schritt weiter geht eine dritte Userin: „Damit bei uns nicht irgendwas total Unpassendes oder Unerwünschtes geschenkt wird, kaufe ich (fast) alle Geschenke selbst ein. Die Großeltern und die Tanten dürfen sich etwas davon aussuchen, was sie bezahlen und schenken möchten.“ Ähnlich macht es auch eine weitere Forumsmutter: „Wir geben die Geschenke vor und bitten immer, dass sich mehrere Personen zusammentun. Heuer gab‘s nur ein Hauptgeschenk zum vierten Geburtstag: ein Fahrrad.“
Let’s talk about Geld, Baby…
Eltern sind bekanntlich Vorbilder. Kinder bekommen meist sehr genau mit, wie sie mit Geld umgehen und welchen Stellenwert Konsum zu Hause hat. Kinder sollten ruhig Zeuge davon sein dürfen, dass Eltern über eine Anschaffung miteinander diskutieren, das Für und Wider abwägen oder etwas mal nicht kaufen können, weil das Geld dafür nicht reicht. Oder dass sie etwas nicht kaufen möchten, weil sie es dann doch für zu wenig wichtig halten. Wer es dann auch noch schafft, nicht negativ über Bekannte zu reden, die offenbar nur wenig Geld haben, und nicht allzu anerkennend von jenen, die sich gerade ein besonders schickes Auto oder Haus gegönnt haben, hat schon viel getan, um sein Kind stark zu machen gegen die leeren Glücksversprechen durch Konsum.